INS BILD GEFALLEN

■ „Vincent fressen ihn die Raben“ vom TanzTheater Skoronel

Vincent van Gogh ist eine jener mythischen Figuren, in die die kulturübersättigte Gesellschaft ihr Unbehagen an sich selbst projiziert. Das fängt bei Artaud an, der van Gogh als den Selbstmörder der Gesellschaft bezeichnet hat, und endet bei jenen tränenrührigen Filmen über arme, verkannte Genies, die alljährlich zur Adventszeit aus dem Mottenarchiv der Fernsehanstalten geholt werden, um den Malocher von der Naturgesetzlichkeit seiner eigenen Unkreativität zu überzeugen. Im Programmheft des TanzTheater Skoronel taucht folgerichtig „van Gogh“ als rustikale Eichenschrankwand eines bekannten Berliner Möbelgeschäfts auf, wunderlich, daß es noch keine mehlige Kartoffelsorte „nach Bauernart“ gibt.

Auch im TanzTheater sieht man van Gogh (John Anderson Scott) manisch und heißhungrig an Kartoffeln hingegeben; ein ungeschlachter Kartoffelesser wie einer aus dem gleichnamigen Bild. Die Kartoffeln fallen ihm aus der Hand, rollen in den Raum, stoßen an am Boden liegende, ineinander verknäulte oder in einen Stuhl eingesperrte Gestalten an: Vincents Umgebung. Die meisten Szenen drehen sich um mißglückte Kontaktaufnahme: immer nähert sich Vincent schüchtern und vereinnahmend zugleich, das Gegenüber reagiert aufgeschlossen, erschrocken und aggressiv. Aus Vincents anfänglicher ungestümer Energie scheint darüber der Wahnsinn zu wachsen, die einzelne Ablehnung verwandelt sich in geschlossene Ignoranz einer ganzen Gruppe: alle Gestalten stehen an der weißen Wand, gehen in kreisenden, autistischen Bewegungen auf und haben keinen Blick für Vincent, der sie einzeln umdreht und ihnen ins Gesicht schauen will. Es ist nicht mehr auszumachen, ob sie alle Wahnsinnige sind oder nur die Projektion eines Wahnsinnigen, der zielgerichtet im Kreis herumrast.

Dieses Herumrasen ist mehr ein bewußtes Trampeln, Hineintreten in den Boden, die Pirouetten des klassischen Tänzers Scott bleiben auf ein Minimum reduziert. Ebenso wirken die Szenen mit der „Schlampe“ (Elisabeth Farr), einer von van Goghs Haß-Liebe-Beziehungen, wie Zweikämpfe, die über dem artistischen Können nie die Wucht des Aufpralls, die Körperverletzung verbergen. Die Konzentration der TänzerInnen läßt die Hitze im kleinen Werkbundsaal fast vergessen, doch das (nicht nur körperliche) Leiden der SpielerInnen überträgt sich als körperliche Anstrengung auf die auf Stühlen entlang der Wände festgeklebten ZuschauerInnen, die 80minütige pausenlose Performance durchzustehen.

Dabei ist die Präzision der rhythmischen Wechsel von schnellen und langsamen, musikalisch dramatisch untermalten und wortlosen Inszenierungsteilen kaum zu übertreffen (Regie: Jörg Aufenanger, Choreographie: Judith Kuckart). Ein Begräbniszug wird zum retardierenden Moment: hintereinander stehen Vincents Zeitgenossen, Roulin, der Postbote, die junge Witwe im schwarz eingefärbten Sommerfetzen, die mit Schürze und Strickjacke vermummte Mutter, die gelb befleckte Prostituierte, die Postbotentochter mit rosa Schleife, das „Mädchen“ im kurzen weißen Hemd; und ihnen gegenüber, oder nachtrottend, Vincent in der offenen Zwangsjacke. Langsam setzt sich der Zug in Bewegung, linker Schritt, rechter Schritt, und in den Mienen wechseln angestrengtes Grinsen und jammervolles Leiden. Nur ganz selten entsteht eine Gefühlslage jenseits dieser manisch-depressiven Grundhaltung: wenn die Postbotentochter (Gisela Müller) Anlauf nimmt und in den Armen von Vincent landet, wenn sie sich mit kindlichem Trotz zwischen einen dieser erotisch -gewaltsamen Zweikämpfe Vincents mit seinen Gegenübern stellt. Sie lacht und stampft alle Bedrohung weg.

Außerhalb bleibt, auf einer Schaukel sitzend, Bruder Theo im schwarzen Anzug (Nina Herting). Seine widerliche Normalität („Habe ein Kind gezeugt“) erweckt Sympathie für die Bewegung auf der Bühne, die sich sprachlos ausdrückt. Aber was einmal konkret das Leben des Malers Vincent van Gogh bestimmte, verschwindet leicht in der Austauschbarkeit allgemeiner psychologischer und sozialkritischer Anklage; die Poesie wird mit Hindemith-Klavier- und Cello-Sentimenten zum stets passenden Soundtrack einmontiert und die Individualität der Spieler in eine geplünderte Biographie gezwängt. Letztlich paßt „Vincent“ zu gut in die thematische Reihe des TanzTheater Skoronel, als Ophelia-Unica-Wesendonck -Nachfahr unterscheidet ihn aber nicht mehr so viel von der rustikalen Wohnlandschaft, die ja auch nur auf ein regressiv -romantisches Lebensgefühl reagiert.

Dorothee Hackenberg

„Vincent fressen ihn die Raben“ bis 16.Juli im Martin-Gropius-Bau (Werkbundarchiv), Stresemannstraße 110, täglich 20 Uhr