Polen: Zwischen Zensur und Freiheit

■ Was vor Wochen noch verboten war, ist jetzt in Polen erlaubt / Nur über die DDR darf fast nichts geschrieben werden / Regierung und Opposition haben sich am runden Tisch auf eine liberale Vorzensur geeinigt / Auch Mitarbeiter von Radio Free Europe dürfen schreiben

Unser Warschauer Korrespondent wird in den nächsten Wochen in regelmäßiger Folge den taz-Lesern einen Überblick über die polnischen Reformen verschaffen. Die kleine Geschichte der Revolution / Teil 1:

„Vorzensur oder Nachzensur“, das war die Frage am runden Tisch. Selbst die Opposition hat sich dann, nicht ohne dafür auch noch Kritik aus den eigenen Reihen einstecken zu müssen, für die Vorzensur entschieden. Begründung: Für kleinere Verlage sei es gefährlicher, werde eine komplette Auflage nach dem Druck beschlagnahmt, als ginge sie erst gar nicht in Druck. Besonders für Wochen- und Monatshefte sind die Verluste dann groß. Geeinigt hat man sich auf eine liberale Vorzensur. Seit der Verkauf von Untergrundliteratur praktisch nicht mehr verfolgt wird, seit täglich vor der Warschauer Uni verbotene Bücher in Massen umgesetzt werden und Emigranten- und Untergrundverleger bei der Warschauer Buchmesse vertreten waren, scheint der Sinn der Zensur ohnehin fragwürdig geworden zu sein. Zumal sich die Zensur beim Streichen immer mehr zurückhält: Die unabhängige Monatszeitschrift 'Res Publica‘ wollte etwa zum Jahrestag der Niederschlagung des Prager Frühlings eine Nummer komplett diesem Ereignis widmen. Vorgesehen waren Interviews mit oppositionellen Schriftstellern, eine breite Chronik der Ereignisse, Kommentare, Analysen, Übersetzungen. Im August letzten Jahres ging das noch nicht - die Zensur konfiszierte die komplette Ausgabe. Jetzt erst ist sie erschienen, mit relativ wenig Verstümmelungen. Kaum noch Eingriffe der Zensur verzeichnet die Wahlkampfzeitung des Bürgerkomitees Solidarnosc bei ihrer Berichterstattung über Ereignisse in der CSSR. Appelle zur Freilassung Vaclav Havels und anderer Dissidenten erschienen dort ebenso wie mehrere Interviews mit dem Prager Schriftsteller nach dessen Entlassung aus der Haft. Während die staatliche Presseagentur 'pap‘ in diesen Tagen von den vermeintlichen Verbindungen der Charta 77 mit Untergrundorganisationen berichtet, konnte man in der Wahlkampfzeitung lesen, das Ganze sei eine Mystifikation des tschechoslowakischen Geheimdienstes. Durchgegriffen wird von der Zensur dagegen bei Berichten über die DDR. Was jedoch die Ereignisse in China angeht, so unterscheiden sich die Berichte selbst in Parteimedien nicht einmal wesentlich von denen der Oppositionspresse. Die Wahlkampfzeitung sandte während der Besetzung des Tiananmen-Platzes durch Studenten einen Sonderkorrespondenten nach Peking, dessen Berichte nahezu unzensiert veröffentlicht wurden.

Auch Autorenverbote, wie noch vor einigen Monaten, existieren nicht mehr. Aufgrund solcher schwarzer Listen waren in der Vergangenheit viele gezwungen gewesen, unter Pseudonym zu veröffentlichen. In der Wahlkampfzeitung schreiben jetzt sogar einige Mitarbeiter des Münchener Propagandasenders Freies Europa als Auslandskorrespondenten. Noch vor einigen Monaten wäre das undenkbar gewesen, galten sie doch offiziell als „Agenten feindlicher Mächte“ und „berufsmäßige Aufwiegler“. Inzwischen, so ist zu erfahren, haben sie als Privatpersonen nicht einmal mehr Einreiseverbot. Eingriffe der Zensur werden übrigens durch Klammern und einen Hinweis auf das entsprechende Gesetz im jeweiligen Artikel kenntlich gemacht. Über größere Zensureingriffe wird in gesonderten Beiträgen berichtet.