Risse in der nuklearen Einheitsfront

In Sellafield klagen Eltern von krebskranken Kindern gegen die Betreiberin der Wiederaufbereitungsanlage / Seit 1950 ist in Sellafield die Krebsrate gestiegen / Jetzt regt sich erster Widerstand gegen die WAA, die auch Atommüll aus der BRD bearbeiten soll  ■  Aus London Jerry Sommer

Stephen D'Arcy arbeitet als Schweißer in der britischen Wiederaufbereitungsanlage in Sellafield. Seine 25jährige Frau Susan hat vor kurzem - ohne seine Einwilligung - eine Klage gegen das Unternehmen eingereicht. Der Grund: Ihre vierjährige Tochter Gemma hat Leukämie. Susan d'Arcy: „Gemma hat keine Chance. Sie hatte von Anfang an keine Chance.“

Der Prozeß gegen die Betreiber von Sellafield, „British Nuclear Fuels“ (BFNL), wird daran nichts ändern. Die Mutter zieht trotzdem zusammen mit drei weiteren Eltern aus der Umgebung von Sellafield, deren Kinder ebenfalls an Blutkrebs erkrankt sind, vor Gericht: „Die sollen wenigstens moralisch ihre Schuld eingestehen müssen.“ Und zahlen. Die Kompensationsforderung beläuft sich auf umgerechnet 1,5 Millionen Mark pro Kind.

Zum ersten Mal sind damit Eltern wegen der Krebserkrankung ihrer Kinder gegen die britische WAA vor Gericht gegangen. Dabei sind krebskranke Kinder an der grünen Westküste Cumbriens im Norden Englands, wo Sellafield liegt, keine neue Erscheinung. Aber erst nachdem 1986 ein von der Regierung eingesetztes „Komitee über medizinische Folgen von Radioaktivität“ seine Untersuchungen über die Krebshäufigkeit um Sellafield und 1988 um den britischen Schnellen Brüter im schottischen Dounreay veröffentlicht hatten, „wagten“ Eltern an eine Anzeige zu denken. Das Komitee hatte nämlich festgestellt: Zwischen 1950 und 1983 sind in Seascale, einem Dorf einige Kilometer südlich der WAA, geborene Kinder zehnmal häufiger an Blutkrebs erkrankt als im Landesdurchschnitt. Fünf von 1.068 Seascale-Kindern sind bis 1986 gestorben, darunter auch zwei, mit denen Gemma d'Arcy in den Kindergarten gegangen ist. Auch an anderen Krebsarten sind hier geborene Kinder viermal häufiger gestorben als sonstwo in Großbritannien. Die Kommission schlußfolgerte: „Irgend etwas, was mit der Sellafield-Anlage zu tun hat, hat die erhöhte Krebsrate verursacht.“

Warum erst jetzt gegen das Mordsunternehmen prozessiert wird, erklärt Dr. Danny Walker, ein praktischer Arzt in Seascale, folgendermaßen. „Wir sind total abhängig von Sellafield. Sellafield ist West-Cumbria“. Das Unternehmen beschäftigt 14.000 Menschen, weitere Betriebe sind als Zulieferer tätig. Andere Unternehmen gibt es weit und breit nicht.“

Gemmas Vater, den der langsame Verfall seiner Tochter ebenso erschüttert wie seine Frau, meint deshalb auch, keine Wahl zu haben. „Wenn ich nicht nach Sellafield zur Arbeit gehen würde, hätte Gemma nichts zu essen.“ Er lehnt auch die Anzeige seiner Frau ab. „Ich beklage mich nicht über Sellafield. Vielleicht, weil ich es einfach nicht will: Ich muß da jeden Tag zur Arbeit.“

Bearbeitet werden soll in Sellafield zukünftig auch Atommaterial aus der Bundesrepublik. In den nächsten Wochen ist mit dem Abschluß eines Vertrages zu rechnen, über den Umweltminister Töpfer und sein britischer Kollege Parkinson verhandelt haben. Etwa 4.000 Tonnen an abgebrannten bundesdeutschen Kernstäben sollen ab 1999 in Sellafield wiederaufbereitet werden. Ein Vertrag über 800 Tonnen für die 90er Jahre ist schon abgeschlossen. Die neue Anlage jedoch, in der wiederaufbereitet werden soll, wird vor 1992 nicht fertiggebaut sein. Der 4.000-Tonnen-Vertrag mit der Bundesrepublik hat einen Wert von fünf Milliarden Mark. „Das ist sehr wichtig für uns. Wir sind ein Betrieb mit gesundem Profit. Und mit dem Vertrag würde unsere Bilanz noch gesünder werden“, erklärt der Pressesprecher von BNFL, Bob Phillips.

Vielleicht wird dieser Vertrag sogar das Überleben der WAA sichern. Denn beim bisherigen Hauptlieferanten von Sellafield, dem „Central Electricity Generating Board“ (CEGB) werden laut jüngst veröffentlichten geheimen Dokumenten zunehmend Zweifel an Sellafield laut. Die Wiederaufbereitung sei teurer als eine Lagerung der abgebrannten Brennstäbe. Die Lagerung der Brennstäbe in Sellafield vor ihrer Weiterverarbeitung in Wasserbecken sei ökologisch und ökonomisch zu gefährlich, da die Behälter korodieren. „Es gibt Anzeichen dafür, daß Brennstäbe, die bis zu acht Jahren (in Sellafield) unter Wasser gelagert sind, radioaktives Cäsium ablassen“, heißt es in einem internen Papier der britischen Elektrizitätswerke von 1987.

Deshalb wird in diesem Herbst von der britischen Elektrizitätsindustrie das Genehmigungsverfahren für den Bau eines Zwischenlagers für hochradioaktive Abfälle eingeleitet. Wenn das Lager Ende des Jahrhundert fertig sein sollte, könnten die bundesdeutschen Importe für gesunde Bilanzen und verstrahlte Menschen in Sellafield sorgen. Die kleine antinukleare Opposition in Cumbrien stimmt diese Aussicht bitter. Jean McSorlew von der Gruppe „Cumbrians Opposed to a Radioactive Environment“ (CORE): „Es ist eine Ironie der Geschichte, daß wir Opfer eines Erfolges der bundesdeutschen Ökologiebewegung werden sollen!“

Während laut Meinungsumfragen 50 Prozent der Briten die Nuklearindustrie ablehnen, ist in Sellafield selbst die WAA bisher fast unumstritten. Der Prozeß der vier Eltern gegen Sellafield kennzeichnet einen ersten Riß in dieser örtlichen nuklearen Einheitsfront. Die Kandidatin der Grünen, Cath Smith, bekam bei den Europawahlen im Juni in Cumbria 21.000 Stimmen. Immerhin ein Anstieg von null auf zehn Prozent aber trotz der Nähe zu Sellafield lag sie erheblich unter den 15 Prozent, die die Grünen im Landesdurchschnitt erreichten.

Die cumbrische Anti-WAA-Opposition hofft vor allem auf die bundesdeutsche Bewegung. Jean McSorlew: „Ich fürchte, daß viele in der Bundesrepublik sich nach der Wackersdorf -Entscheidung erleichtert zurücklehnen. Ich hoffe, sie werden jetzt etwas tun, damit das Zeug nicht nach England kommt.“

Für Gemma D'Arcy werden Gerichtsverfahren und solche Aktionen zu spät kommen. Für künftige Generationen könnten sie lebensrettend sein.