GESCHICHTE WIRD GEMACHT

■ Die erste Acid-House-Party in Berlin/Fernsehturm

Falsche Töne im FDJ-Club in der Otto-Schmiergahl-Straße. Im Clubraum läuten die Kirchenglocken zur gregorianischen Ostermesse. Bei den Falken gegenüber im Tierpark stößt das Gebimmel auf taube Ohren, und auch die vielen Kids, die sich die Treppe im Betongebäude hochschlängeln, sind sichtlich irritiert. Schließlich steht groß und deutlich auf einer Kreidetafel, daß es sich hier heute um die erste Acid-House -Party handelt.

Nachdem FDJ-Clubleiter Henri die Veranstaltung vor einer Woche in der Berliner Zeitung angekündigt hatte, stand das Telefon nicht mehr still, und die paar hundert Karten waren schnell verkauft. 15 Mark pro Person, der Groschen geht ans Kultusministerium, so eine Art GEMA-GEMA-Gebühr. Viel Mühe haben sich die ehrenamtlichen Helfer gemacht, die Clubräume zu schmücken. Ein befreundeter Maler verwandelte den Tanzraum mit poppig bunten Bildern in eine Graffiti-Höhle, am Eingang ließ Henri ein paar Artikel aus einer westdeutschen Musikzeitschrift über die Geschichte der House -Music aus Chicago anheften, auf der Balustrade wird eifrig gegrillt. Obwohl es noch hell ist und die Sonne sich gnadenlos durch die jungen Seelen brennt, ist der Club um 19 Uhr mit Hippies, Punks, Halbglatzen und einigen Smileys verstopft. Jeder versucht, sich irgendwo etwas zu trinken zu ergattern, Gin/Brause und Kirsch/Wodka statt LSD und Ecstasy.

Endlich hat der Diskothekar Mario Erbarmen mit den aufgeregten Kids und stopft den Mönchen per Stoptaste den Mund. Es ist soweit, die ersten 120 beats per minutes donnern durch die Räume. Doch keiner wagt zu tanzen. Mario bleibt cool, greift zum Mikrophon und erklärt die erste Acid -House-Party für offiziell eröffnet. Auf das Kommando hin stürzen sie auf die Tanzfläche und jacken los. Eine Dampfmaschine benebelt die TänzerInnen, Hustenanfälle im treibenden Rhythmus. Trillerpfeifen und Aciiied-Schreie bekämpfen das Gebrumme aus den Boxen. Schweiß tropft von den Wänden. Keine Mode, kein Image, kein Kult, jeder tanzt so wie er will und kann. Die Kassetten von Westbam, die jemand mit rübergebracht hatte, gönnen keinem eine Atempause, der kollektive Tobsuchtsanfall bringt den FDJ-Club zum Kochen. Gegen 23 Uhr wandelt sich das Bild, und der Druck im Kessel steigt weiter. Die Jungen und Erschöpften verlassen den Saal, die Szene aus den anderen Clubs von Berlin Mitte und Prenzlauer Berg ist zur Ablösung bereit und bringt frischen Wind in den F(un)DJ-Club. Um 2 Uhr morgens muß Mario das Tape stoppen und das Licht anmachen. Es wird nicht das letzte Mal sein. Demnächst kommt Westbam live nach Berlin/Fernsehturm.

Thomas Böhm