: Kunst ist die höchste Form der Politik, Politik ist die höchste Form der Kunst
■ Ein Rückblick auf 25 Jahre Diskussion zum Thema Literatur und Politik
Peter Mosler
Kunst war in der ersten Hälfte der sechziger Jahre politische Konterbande. Während in West-Berlin und in der BRD die DDR „sogenannt“ und Ulbricht eine Unperson genannt wurde, passierten wir von der Studiobühne Erlangen häufig die Grenze in Berlin. Unsere Adressen waren das Theater am Schiffbauerdamm, Wolf Biermann, Hans Bunge, Helene Weigel und Studenten der Theaterwissenschaft an der Humboldt-Universität.
Als Claus Peymann aus Hamburg das Projekt der Inszenierung von Hans Henny Jahnns Straßenecke in der Studiobühne ins Gespräch brachte, begriffen wir das Stück im Kontext der politischen Bewegung in den Vereinigten Staaten. Daß Hans Henny Jahnn im Dritten Reich zu den vertriebenen Dichtern zählte, war für uns noch nicht Thema. Die Konjunktur der Exilforschung - mit der heute Professoren Karriere machen hatte noch lange nicht begonnen. Jahnn war, wie Oskar Maria Graf oder Alfred Döblin, einer der literarischen Emigranten, die zwar zurückkamen, aber zu Lebzeiten keinen Leserkreis mehr gefunden, nicht mehr erlebt haben, wie eine Gesamtausgabe ihrer Werke erschien. Hans Henny Jahnn lebte in den fünfziger Jahren in der BRD, in einer Zeit, in der Deutsche ihre „Vergangenheit besser im Ritterkreuzträger als im Emigranten“ erkannten (Mitscherlich). Der Dichter erlebte als Remigrant die Einsamkeit des Exilanten wieder; er, der Einzelgänger, gehörte nie einer Gruppe von Verfolgten an, er war nicht jüdisch, nicht kommunistisch, nicht sozialistisch.
Im Mai 1965 ging die Studiobühne Erlangen mit Straßenecke auf Tournee zu den Studententheaterfestspielen in Warschau. Die Studententheatergruppe spielte als erste westdeutsche Bühne in Polen nach dem Krieg. Damals war tatsächlich Kunst eine Form der Politik. Polen kam sonst in der BRD nur in Reden von Vertriebenenverbänden vor, aber als „Ostdeutschland“, während die DDR als „Mitteldeutschland“ figurierte. - Unsere Reisen in den Fernen Osten hinter dem Brandenburger Tor hatten uns mit der Literatur der DDR vertraut gemacht, so daß wir dem Publikum die Lyrik der DDR vorstellen konnten, während zur Politik der BRD neben der staatlichen die kulturelle Nichtanerkennung gehörte. Wir verstanden Theaterarbeit als eine List beim Formulieren der Wahrheit, als es sich ebensowenig gehörte, das Wort „Kapitalismus“ auszusprechen wie Fisch mit dem Messer zu essen. In Frankfurt stellte Horst Bingel seit 1966 im Frankfurter Forum für Literatur Autoren aus Bulgarien, Jugoslawien, Polen, Rumänien, der Tschechoslowakei und Ungarn vor. Ganz Europa erlebte eine gewaltige Freisetzung schöpferischer Kräfte in Kunst, Literatur, Musik und Theater. 1967 lasen in Frankfurt Witold Wirpsza, Ernst Jandl, Zbigniew Herbert, Michel Butor und viele andere.
Im Mai 1968 zeigte Bingel in den Frankfurter Römerhallen ein aufregendes Szenario der künstlerischen, literarischen und politischen Turbulenzen der Gegenwart, den grauen Markt, das im Untergrund Verstreute. Aufstand, Revolution - das waren die Losungen der Zeit: 'Arte y rebelion‘ hieß eine Zeitschrift aus Buenos Aires, von John Cage war das Buch How to improve the world ausgestellt, aber auch Texte von Ferdinand Kriwet, Franz Mon, Wolf Vostell, Marshall McLuhan. Neben den Bekannten waren die damals Unbekannten zu entdecken, Odysseas Elytis, Herbert Achternbusch oder Rosa von Praunheim. Daneben Zeitschriften und Dokumente von der weltweiten künstlerischen und literarischen Revolution, 'The City of San Francisco Oracle‘, 'Literaturbleche‘ von Bazon Brock, Happenings und Aktionen aus Prag, Budapest, Moskau oder Warschau. 22.000 Menschen kamen zu dieser ausgefallenen „Literarischen Messe“, und sie bestellten für 50.000 Mark Bücher und Zeitschriften. Der Besucher verließ die Ausstellung wie betäubt von der weltweiten Explosion in Kunst und Literatur, Dylans Time is a changing im Ohr.
Abseits von den Zentren der Apo entwickelte der Kreis um Joseph Beuys an der Kunstakademie Düsseldorf einen neuen Kunstbegriff: „Kunst ist die höchste Form der Politik. Politik ist die höchste Form der Kunst.“ Eine große Wochenzeitung beschrieb 1968 die Betriebsamkeit in Düsseldorf so: „Beuys und seine Schüler schwärmen. Fanatisierte Jünger durchlaufen die Akademie, tuscheln und rascheln und zeigen eine insektenhafte Aktivität, sind clever, eifrig und emsig wie Maos kleine Chinesen...“ Gemeint war: Verdacht auf politisches Revoluzzertum. Beuys hatte 1967 die Deutsche Studentenpartei gegründet, 1961 mit dem Fluxusfestival in Aachen Aufsehen erregt, so großes Aufsehen, daß der Innenminister von Nordrhein-Westfalen sagte: „Ein solcher Mann kann kein deutscher Beamter sein.“ So kam es, daß Beuys zwar als Professor an die Kunstakademie Düsseldorf berufen wurde, aber seit 1961 Jahr für Jahr verlängerte Verträge erhielt. 1972 konnte er so von dem Wissenschaftsminister Johannes Rau fristlos entlassen werden. 1977 verweigerten die Grünen Beuys einen sicheren Listenplatz - weil das Stimmen kosten könnte...
Die Zeit des großen kulturellen Aufbruchs war von 1965 bis 1968. Wir hatten auf der Schule gelernt, daß revolutionäre Epochen der Kunst schaden; das Gegenteil ist richtig: In solchen Phasen der Rebellion, des Aufstands erweitert die Kunst ihre Mittel und vergrößert ihren Raum. Nicht die Politisierung hat die Kunst zerstört, sondern das Paradigma: Der Zweck der Kunst ist politisch.
Peter Weiss erklärt 1965 in einem offenen Brief, daß er seine Kunst nunmehr der „Neuformung der Gesellschaft“ nützlich machen wolle. Die Stücke, die er jetzt schreibt, sind Dokumentarspiele: Die Ermittlung (1967), Der Gesang vom lusitanischen Popanz (1967) und Der Vietnam -Diskurs (1968). Das Dokumentarstück will sich einer hohen Authentizität, gewissermaßen der „Objektivität“, versichern, wie überhaupt das Motto der Literatur der Zeit war: weg vom Fiktionalen. Es sollte sich herausstellen, daß der Verzicht auf die Fiktion zwar der Kunst eine neue Welt zuschlägt, die Arbeiterwelt nämlich, daß aber zugleich ein ästhetischer Verlust droht. Kunst kann nämlich „ihr radikales Potential nur als Kunst ausdrücken, in ihrer eigenen Sprache und Bilderwelt“ (Herbert Marcuse). Peter Handke meint zu dem Dokumentartheater als moralische Anstalt schlicht: „Das Theater als gesellschaftliche Einrichtung scheint mir unbrauchbar für eine Änderung gesellschaftlicher Einrichtungen.“ Diese Kontroverse zog sich bis in das Jahr 1968 hin; Günther Wallraff schrieb die szenische Dokumentation Nach-Spiele im Auftrag des DGB. Als er einen Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen erhielt, teilte der Chef der Staatskanzlei dem Kultusminister mit, daß gegen Wallraff Verfahren wegen „Staatsgefährdung, Amtsanmaßung und Verbreitung unzüchtiger Schriften“ anhängig seien. Ministerpräsident Heinz Kühn versicherte daraufhin, in Zukunft sollten nur diejenigen ausgezeichnet werden, deren Verwurzelung in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung sicher sei.
Ausgerechnet Hans Magnus Enzensberger wurde das Mundstück des Zeitgeistes, als er im 'Kursbuch‘ 15 in einem rauschhaften Selbstgefühl der Revolte schrieb: „Kultur ist das einzige Terrain, auf dem die Bourgeoisie unangefochten dominiert.“ Literarisch anspruchslose Faktographien wie Nirumands Persienbuch oder Erika Runges „oral history“ Bottroper Protokolle waren die Bücher der Rebellen, nicht etwa Gedichte von Rolf Dieter Brinkmann oder Ernst Meister.
Walter Boehlich im 'Kursbogen‘ zu 'Kursbuch‘ 15: „Können wir keine Kritik haben, die den fadenscheinig gewordenen Kunstbegriff über Bord wirft und endlich die gesellschaftliche Funktion jeglicher Literatur als das Entscheidende versteht und damit die künstlerische Funktion als eine beiläufige erkennt?“ Gefragt war der „Gebrauchswert“ von Kunst - und das in einer Welt, in der Andy Warhol den Tauschwert als Fetisch zum Kunstobjekt machte.
Ende November 1968 erschien in der 'Zeit‘ der Artikel Kunst als Ware der Bewußtseinsindustrie von der Berliner SDS-Gruppe „Kultur und Revolution“. Kronzeugen der Krtiik waren Marcuse, Adorno, Horkheimer und Benjamin, ohne sie beim Namen zu nennen. „Die hohe Kunst“, teilt die SDS-Gruppe mit, „gerät, unbeschadet ihres objektiven Gehalts, in die Zahnräder der Verwertungsindustrie und wird Mittel der Einschüchterung. Die Belieferten haben keinen Einfluß auf die Belieferung.“ Und weiter: „Die Kunst ist für das herrschende System eine wesentliche Stütze geworden, mit der die Machtstellung sich demonstrieren läßt.“
Und was weiter...? Die Sätze der Gruppe „Kultur und Revolution“ enthielten im Grunde nichts Neues: Die Mikrozellen der Revolte, Gruppe „Spur“ und Situationisten, hatten dasselbe schon zu Beginn der sechziger Jahre formuliert. Überraschender als der Artikel war die bestürzte Reaktion darauf. Über mehrere Wochen füllten Erwiderungen von Schriftstellern und Publizisten das Feuilleton der Wochenzeitung, angefangen mit Peter Handke: „Es sind Sätze, letzte Sätze, Endsätze, Sätze, die sich verdinglicht haben. Es sind Dinge. Weil es Dinge sind, sind es Waren. Weil es Waren sind, haben sie keinen Tauschwert. Weil es Waren als Reklame sind, haben sie keinen Gebrauchswert.“ Schließlich stellte Handke die Frage: „Warum heißt die Gruppe 'Kultur und Revolution‘? Könnte sie nicht ebensogut heißen 'Helga und Michael‘? Oder 'Peter und Sabine‘?“
Als einziger antwortete souverän, doch ohne Herablassung, kritisch, doch ohne sich dem Autodafe hinzugeben, Erich Fried; vielleicht mußte man ein politischer Dichter sein, um nicht dieser aufgeregten Verwechslung von Kunst und Politik zu verfallen. Nach Che Guevara sei die Hauptaufgabe der Kunst nicht Agitation, sondern Bekämpfung der Entfremdung „aber auch, uns alle davor zu bewahren, bis zur Zeit der Revolution entweder verhärtet oder stumpf zu werden oder zusammenzubrechen“.
„Affirmativ“ war das Zauberwort der Debatte. Kunst habe weder real noch politisch Bedeutung; sie geschehe nur und sei dadurch Bestätigung. Gesellschaftliche Arbeit statt Kunst hieß denn auch folgerichtig der letzte Beitrag dieser Diskussion. Von Kritik der Kunst ist in diesem Artikel von Michael Buselmeier gar nicht mehr die Rede, sondern: „Der 'Arbeitskreis Kulturrevolution‘ stellt sich (...) gesellschaftliche Arbeit an der Basis vor: Schrittweise werden wir unser Projekt verwirklichen: Eine Zeitung von Arbeitern für Arbeiter.“
1969 war das Ende der Studentenbewegung, Ende des großen kulturellen Aufbruchs und Anfang der Parteien - damals streng leninistisch rot. Günther Bruno Fuchs hatte diesen Schlamassel beizeiten vorausgesehen: A und A gründen die A-Partei. Jeder A
ist willkommen. Kein
sei sich der selbst Nächste
Heute gibt es dasselbe in Grün. Im Nebenzimmer der toten Erbtante, wo um den Nachlaß der Revolte gestritten wird, sitzt auch diese Partei.
Die Studentenbewegung war ein großer kultureller Aufbruch anstelle einer politischen Revolution; dann 1969 jene Zerstörung der Kunst durch die Politik, weil nach den revolutionären Tischsitten auch die Revolte ihre Väter verschlingen muß. Peter O. Chotjewitz: „An einem bestimmten Punkt trat eine Enttäuschung mit den 68ern ein. Wir hatten damals das Gefühl, daß sie eigentlich kunst- und literaturfeindlich seien. Und das war uns unbegreiflich, weil wir sagten, ohne uns, ohne das, was wir vorgedacht hatten, gäbe es die doch gar nicht!“
Es bleibt uns jedoch heute nicht der ironische Umkehrschluß erspart, daß nach dem Containment der Revolte viele der politisch Rebellierenden Kunst, Literatur, Theater und Filme machen.
Ich schließe - schon weil ich es Ihnen, einem sachverständigen Publikum, schuldig bin - mit den Worten, mit denen ein berühmtes Stück beginnt:
einer sagt Nichts zu machen.
der andere Ich glaube es bald auch.
Ich habe mich lange gegen diesen Gedanken gewehrt. Ich sagte mir: Wladimir, sei vernünftig, du hast noch nicht alles versucht. Und ich nahm den Kampf wieder auf.
Glauben Sie bitte nicht, ich schenke Ihnen die Limonade einer wäßrigen wohlfeilen Ermutigung ein. Die Sätze stammen aus Warten auf Godot.
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