piwik no script img

Am Barkhof: Deutschlands reichste Armutsforschung

■ Das Bremer „Zentrum für Sozialpolitik“ will mit 10 Mio Mark die Entwicklungen des „Wohlfahrtsstaates“ erforschen / Grundsätzliche Gegensätze

Mit soviel Geld wurde in der Bundesrepublik noch nie die Armut erforscht. Runde 10 Millionen Mark, die Hälfte des ehemaligen Gymnasiums am Barkhof, sieben Professoren, 13,5 Stellen für wisschenschaftliches und zwölf Stellen für organisatorisches Perso

nal stehen dem neugegründeten „Zentrum für Sozialpolitik“ an der Bremer Uni in den nächsten fünf Jahren zur Verfügung, um „Grundlagen, Folgen und Wandlungen des Wohlfahrtsstaates und der Sozialpolitik fächerübergreifend zu erforschen“. Drei Millio

nen Mark, und damit die höchste jemals für Sozialpolitikforschung bewilligte Summe, steuerte die Volkswagen-Stiftung bei. Mit dem Bielefelder Soziologen Claus Offe zog das reiche Angebot selbst internationale Wissenschafts-Prominenz ins solcherart

eher ärmliche Bremen.

Vor vier Jahren hatten Sozialsenator Scherf, Wissenschaftssenator Franke und der damalige SPD-Chef H.D. Müller mit dem Bremer Armutsforscher Stephan Leibfried zusammengesessen und das Konzept des „Zentrums“ vereinbart. Bereits seit 1983 werden die Daten einer zehnprozentigen Stichprobe aller Bremer EmpfängerInnen irgendwelcher Sozialleistungen umfassend archiviert - ein in der Bundesrepublik einmaliges empirisches Material. Neben einer umfangreichen Bibliothek zu den Bereichen Armut, Gesundheit und Geschichte der Sozialpolitik werden dem „Zentrum“ auch künftig „frische“ Daten aus dem Computer der Bremer Sozialbehörden zur Verfügung stehen.

Mit Salzbrezeln, Sekt und einem Vortrag zur Zukunft des Rentensystems wollten die fünf Zentrums-Professoren am Mittwoch der akademischen Öffentlichkeit erstmals einen Eindruck ihrer Forschungsthemen geben. Der Ex-Berliner und Neu-Bremer Ökonom Winfried Schmähl wußte, wovon er redet. Schließlich ist er Vorsitzender des „Sozialbeirats“ der Bundesregierung, der wesentlich an der sogenannten Rentenreform mitgearbeitet hat, die ab 1992 dem steigenden Alten-Anteil in der Gesellschaft mit einer Erhöhung des

Rentenalters begegnen will. Eine Änderung der - bereits 1889 von Bismarck festgeschriebenen - einkommensbezogenen Renten lehnt Schmähl ab, „negative Auswirkungen auf die Arbeitsmotivation“ seien zu befürchten, wenn - wie in Dänemark oder Neuseeland - der Altersarmut mit einer Einheitsrente begegnet würde. „Moralische“ Umverteilungskriterien innerhalb der Rentenversicherung würden die Akzeptanz der Beitragszahler gefährden, die Politik sollte die Rentendiskussion lieber den Versicherungs -Experten überlassen, ein „Grundkonsens“ sei gefordert.

Als „große Koalition der Sachverständigen“ lehnte Claus Offe dagegen das Modell seines neuen Bremer Kollegen am „Zentrum für Sozialpolitik“ ab. Offes Forschungsfrage: „Würde die Akzeptanz des Sozialsystems nicht gerade steigen, wenn es mehr moralische Kriterien enthielte?“ Der

Ex-Bielefelder Soziologe gehört zu den Befürwortern einer finanziellen „Grundsicherung“ unabhängig von Alter, Geschlecht und Beruf. Ihn interessiert dabei nicht nur die „Arbeitsmotivation“, sondern auch die Motivation einzelner BürgerInnen, neben den Institutionen des „Wohlfahrtsstaates“ selber konkrete Hilfen und Dienste zu leisten.

Die Fronten des Streits im „Zentrum“ waren schon bei der ersten öffentlichen Veranstaltung offensichtlich. „Wir wollen den Streit nutzen“, bestätigten sich Offe und Schmähl am Mittwoch gegenseitige Anerkennung für ihre gegensätzlichen Positionen. „Schließlich machen wir Grundlagenforschung und wollen kein Politikberatungsinstitut werden“, erklärte Schmähl. „Wir sind ja kein politischer Verein“, stimmte Offe zu, „wir machen keine Sozialpolitik, sondern erforschen sie.“

Dirk Asendorpf

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen