Ein Verein leistet Widerstand

Seit 21 Jahren trifft sich der Revolutionsverein „Viva“  ■ K I E Z R E P O R T A G E

Die Glasscheibe des Waschsalons ist dicht beschlagen. Nicht die Feuchtigkeit der frischgewaschenen Wäsche ist daran schuld, sondern die Hitze des Gefechts der heiß diskutierenden Gruppe. „Viva“ trifft sich seit Jahren mangels anderer Örtlichkeiten in einem Automatenwaschsalon in der Karl-Marx-Straße. „Wir sehen uns damit auch in der Tradition der Waschweiber, die in der französischen Revolution auf die Straße gingen“, erklärt Heinz Voskel, Vorsitzender und Kassenwart von „Viva“ am Telefon. Doch ansonsten ist der gelernte Einzelhandelskaufmann und perfekte Tennisspieler Voskel eher gegenwartsbezogen. „Wir haben den Verein gegründet, weil wir gesehen haben, daß die Parteien wesentliche Fragen der Menschenrechte völlig außer acht lassen: Gleichheit, Brüderlichkeit, Freiheit. Statt dessen haben wir heute freie Marktwirtschaft und den Evangelischen Kirchentag. Das genügt uns nicht!“

Voskel und seine Genossen begreifen sich als außerkoalitionäre Opposition, mit der Kreuzberger DKP/RZ oder gar den Autonomen eint sie jedoch nichts. „Wir sind denen zu bürgerlich, viele unserer Mitglieder sind hauptberuflich Bäckersfrauen, Elektrofachleute oder Programmierer aus Westdeutschland, die vor Jahren nach West -Berlin gekommen sind, um die Umwälzung der bürgerlichen Gesellschaft voranzutreiben.“

Wie hat „Viva“ den 1.Mai erlebt? „Wir haben unseren gemeinsamen Reader natürlich sofort um einige grundsätzliche belletristische Werke einiger Tageszeitungen erweitert und waren von der lebensechten, dramatischen Schilderung der Ereignisse sehr angetan.“ Ein freundliches Lächeln erscheint auf dem Gesicht des Alt-Spontis. „Die Widersprüche zwischen den Regierenden und den Massen haben sich so verschärft, daß wir jeden Moment auf den Ausbruch der Revolution warten.“ Steht er mit dieser positiven Einschätzung nicht gegen eine ganze Szene, die neuerdings auch militante Autonome vor dem organisierten Verbrechen schützt? „Natürlich hab ich das von meinen Tennispartnern häufig zu hören gekriegt. Zwar ist die Masse noch nicht völlig reif, aber ich lasse mir das Revoluzzen nicht verbieten. Ich habe mich auch geweigert, wie so viele andere in konzertanter Aktion in die AL bzw. in die SPD einzutreten, statt heimlich auszutreten.“

Statt dessen bereitet sich die gemischte Gruppe wöchentlich auf ihre Rolle als revolutionäres Subjekt vor. Sorgen macht ihnen die sich unter Altrevoluzzern vermehrt ausbreitende, ansteckende „Bäckerkrankheit“. Eitrige Geschwüre im Mundbereich entstehen durch die Beschäftigung mit gärenden Problemen, die Folge: aufgeblasenes Geschwafel gegen Militanz und für friedvolles Miteinanderreden. Kann „Viva“ eine legale Alternative sein? „Autonom sein trauen wir uns nicht (der Waschsalon gehört einem linksliberalen Pächter, Anm. der Red.), aber wir halten es mit Marie Antoinette: Wer kein Brot mag, soll Kuchen essen.“ Wird hier die jahrelange Forderung der Frauenbewegung „Wir wollen den ganzen Kuchen!“ aufgegriffen? Marie Antoinette konnte bis Redaktionsschluß nicht mehr befragt werden.

DoRoh