Das ultimativ Böse

■ Rechtzeitig zur zwanzigsten Wiederkehr der Tate/LaBianca-Morde präsentiert „The Manson-File“ eine Fülle bisher unveröffentlichten Materials über Charles Manson

Rudolf Stoert

Prediction: Sometime in the future Charles Manson will metamorphose into a major American folk hero. (Wayne McGuir

in Aquarian Journal

1963 erfährt die amerikanische Psyche einen traumatisierenden Schlag: ihrer strahlenden Ikone, jenem Zeichen des Jungen, Schönen & Guten, J.F.Kennedy, wird das Hirn aus dem Schädel geblasen. Immer & immer wieder führt der Zapruder-Film vor Augen, wie der inkarnierte Sonnengott amerikanischer Sehnsüchte & Hoffnungen Spielball banaler ballistischer Kräfte wird. Sechs Jahre später, 1969, wird ein leuchtender Stern vom flimmernden Firmament der völkischen Wunschprojektionsmaschine Film geholt, wird die hochschwangere Schauspielerin Sharon Tate hingeschlachtet.

Wurde die heile US-Welt 1963 schon arg erschüttert & verlor die Nation in darauf folgenden Jahren mehr & mehr ihr kohärentes Selbstbild öffentlicher Unschuld - sei da dieser eine Krieg, dieses Gemetzel da unten, weit, weit weg genannt -, so brach das Grauen 1969 inmitten des Alltags hervor. Während dem Ur-König-Bild „Kennedy“ das Nichthabbarwerden der Täter (Oswald? Narren!) eine zusätzliche Aura des Unheimlichen, Erhabenen verlieh, so verhalf gerade das Dingefestmachen der Killer Sharon Tates zumindest zu einem peripheren Platz im Hollywood -Walhalla des trash. Die Festnahmen waren der Beginn eines totalen traumaturgischen Prozesses, aus dem am Ende jener andere mediale Massenmystiker erstand, jenes andere überlebensgroße Zeichen.

Und wie der Zapruder-Film über das Kennedy-Attentat mit seinen Rissen & Streifen das Alternieren zwischen Diokument & Fiktion verdeutlicht, so verflüchtigen sich die Elemente der Beweisketten (Todesscheine, Kleidungen, Fotografien, Protokolle etc.) im Tate/LaBianca-Fall alsbald ins Hyperreale, gliedern sich nurmehr marginal an „Kennedys“ Widergänger an - an den modernen Archetyp des Bösen, des Kranken & Verrückten, den Signifikanten der im Verborgenen wuchernden, psychotischen Obsessionen der puritanisch -pragmatischen Volksseele: Charles Manson.

Am 19.November 1970 wurde Charles Manson gestattet, eine abschließende Erklärung vor dem Gericht zu machen, das ihm zuvor jedes Eingreifen in den Prozeßverlauf verweigert hatte. Diese Erklärung - mit der das Manson-File eröffnet - durfte auf Betreiben des Anklägers Vincent Bugliosi nur vor ihm & dem Vorsitzenden, nicht aber vor den Geschworenen, gehalten werden. Jedem Gericht ist es eigen, als Macht den Leib fragend zu berühren & zu zerlegen. „Die Wege, die einer ging, die Räume, in denen er war, die Stunden, die er erlebt hat, die alle damals frei & unverfolgt schienen, werden plötzlich unter Verfolgung gesetzt. Alle Wege müssen wieder begangen werden, alle Räume wieder betreten werden, bis möglichst wenig von jener alten & vergangenen Freiheit übrig ist.“ (Canetti) Die Frage ist immer schon eine nach der Identität.

Manson antwortete nicht konkret, er äußerte sich kaum zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen, sondern „versuchte einen Zauber zu weben“ (Bugliosi) - er stellte dem Gericht einen radikalen Gegenentwurf vor: eine „Identität“ als fragliches Konstrukt von Sprache sei ihm fremd - „a motion is more real than a word“ -, ein Subjekt konstituiere sich nur „jetzt„/„now“, im Moment & ist dieser vergangen, so sei auch das „Ich“ ein anderes. Wo also läge die Identität zwischen dem Charles Manson von 1969 & dem von 1979?

Insbesondere Bugliosi erarbeitete dennoch entsprechend seinem Insturmentarium eine Maske, das Gerichtsverfahren feilte ein klares, starres, konzentriertes Bild heraus. Auch das Manson-File präsentiert eher Masken neben/hinter Masken; unmöglich ist also die Frage nach einem „realen“ Manson, nur noch Text-Masken lagern sich - archetypisch mythisch - ab. Der Hippie

Always is always forever

As one is one is one

Inside yourself for your father

All is none all is none all is none

It's time to drop all from behind us

The illusion has just been a dream

The Valley of Death may not find us

Now as then on a sunshine beam

So bring only your perfection

For then life will surley be

No cold no fear no hunger

You can see you can see you can see.

So lautet einer der Song-Texte Mansons. Auch die „family“ so es denn eine geben würde - hätte auf der Spahn-movie -Ranch versucht, ihr eigenes, selbstbestimmtes Leben zu führen. Freier Sex untereinander sei die Regel gewesen, die Kinder wären gemeinschaftlich aufgezogen worden, man hätte mit Drogen experimentiert, auch „Helter Skelter“ sei ein Versuch gewesen, andere Bewußtseinsarten kennenzulernen: einem Spiel vergleichbar - man hätte oft, tagelang ungezwungen gespielt-, schlüpfte man/frau/usw. in eine Rolle. Auch Mansons „short-stories“ berichten von einer Zeit & Zuständen, in der alles möglich war, in der man immer bereit war, Neues zu erleben; sie fuhren mit dem Bus durch die Gegend, nahmen Rocker & Nonnen mit, kauften Drogen & überall gab es Sex & Liebe. In Mansons Schriften kristallisieren sich einige Themen heraus; er galt als der beste Ficker, sein Sex war ultimativ magisch, eine Verbundenheit mit der Natur war nicht nur Idee, sondern wurde körperlich empfunden, es galt ihr nachzuspüren. Vielleicht ist es möglich, die Frage anzulegen, inwieweit die damals kursierenden Hippie-Ideologien Manson überhaupt zu einem Vokabular verhalfen..., oder aber, ob Manson die zirkulierenden Texte verkörperlichte, „& das Wort ist Fleisch geworden...“, Manson - Menschensohn.

Egal, hinter der Hippie-Maske verbirgt sich kein Geheimnis, neue Masken springen einen an. Der okkulte Messias

An intelligence outside & away from people thinking they're boss has control over things we never tought of or dreamed of.

Um an dieser Kraft partizipieren zu können, ist es nötig, „in the thougt“ zu sein - so wie die „family“. Die Kraft ist zeitlos, ewig, jedoch kehrt alles wieder: „circles“.

Wie schon gesagt, war Mansons Sexualkraft hochmagisch; sie verlieh ihm beispielsweise Macht über Leben & Tod, sein beim blow-job - abgebissener Schwanz wuchs ihm angeblich wieder an, die „Geister verstorbener Kinder“, die den „family„-Bus besetzt hielten, inkarnierten sich nach vollzogenem Geschlechtsakt neu. So die eine Maske, die das Manson-File präsenstiert. Eine andere, nicht genannte, sagt: „Manson war ein kleiner, sex-besessener Egomane.“ Eine dritte, auf die im File angespielt wird, enthüllt: Manson traf im „Spiral-Staircase„-Spukhaus auf diverse Hexen & Zauberer. Darunter auch Anhänger der „Process Church of the Final Judgement“. Diese Kirche, von ehemaligen Anhängern der Scientology-Church 1965 in England gegründet, hatte sich 1967 in San Francisco eingenistet. Sie predigten die Verbindung von Jesus (fürs Gemüt) & Satan (für die action), ihre veröffentlichten Texte bersten vor Gewalt & Blutdurst. Sanders sprich in seinem Buch The family (Rowohlt -Verlag) über diese Gruppe, wagt sich jedoch nicht, sie beim Namen zu nenen. Maury Terry, Autor von The Ultimate Evil, zeichnet die blutige Spur - Tierverstümmelungen, Vergewaltigungen, Ritualmorde - dieser „Kirche“ von der West - zur Ostküste. Terrys Buch ist zwar von einem paranoiden Ton durchtränkt, doch ist es evident, daß Manson einmal einen seiner Leute nach England ins Hauptquartier der „Church“ entsandte & daß er umgekehrt auch von diesen angesprochen wurde. (Mitglieder der „Process Church“ sind auch heute noch aktiv. Der Chefankläger im Fall LaRouche beispielsweise ist zumindest in näherem Kontakt mit der Gruppe gewesen.)

Ein anderer Maskensprung: Susan Atkins aus der „family“ wurde einmal von Anton Szandor LaVey, dem godhead der „Church of Satan“, in einer öffentlichen schwarzen Messe als ein einem Sarg ensteigender Vampir benutzt. LaVey war später der technische Berater bei Polanskis Rosemaries baby der Film, der eine Menge Details satanistischer Praktiken preisgibt, war für die daran Beteiligten verhängnisvoll. Der Produzent, William Castle, erlitt eine schwere Herzattacke. Krystoph Komeda, schon bei Tanz der Vampire als Komponist tätig, starb, nachdem er eine Treppe herunterfiel. Kurze Zeit später wurde die schwangere Sharon Tate niedergemetzelt - die Gerüchte wollen nicht verstummen, vergrämte Satanisten hätten ihr Baby gewollt.

Der Ort, an dem Rosemaries baby gedreht wurde, die Dakota Appartements in New York, galt als verrufen. 1980 wurde ein prominenter Mieter der Appartements auf offener Straße von Mark David Chapman, einem Angestellten der mehr als obskuren „World Vision„-Gruppe, auf offener Straße erschossen: John Lennon, Autor von Helter Skelter.

Laurence Merrick, Schauspiellehrer der Tate & Produzent des einzig akzeptablen Films (Manson) die „family“ betreffend, wurde am Tag vor der Uraufführung des Streifens von Unbekannten erschossen.

Soweit die dunkleren Koinzidenzen. Ein weiterer Maskensprung: Manson rekrutierte ständig auf ein Zeitverständnis des „Jetzt„/„Now“, was ihn - wie bereits gesagt & abgesehen von seiner expliziten Verneinung des geschriebenen Wortes - jenseits eines sprachlichen Diskurses von Vernunft & Zeit stellt. Abraxas nun ist der Dämon des „Jetzt“, begriffen als eine Zeitform der Ewigkeit. Abraxas ist einer der Heiligen der „Process Church of the Final Judgement“, er gilt als Erlöser von der Last der „Zeit“ (des symbolischen Codes etwa) & sein Zeichen ist die Swastika - darüber gleich mehr-; Manson identifizierte sich von Zeit zu Zeit mit Abraxas.

Auch hier stellt sich wieder die Frage, inwieweit diese wuchernden Texte mehr als Maskenproduktion leisten. Gibt es das Geheimnis eines „realen“ Charles Manson dahinter? Der Öko-Terrorist

Everyone's trying to save a way of live that died a long time ago and just ain't stopped yet. Truth is, all earth people got to save this earth, and no one wants to hear it.

Mansons Beziehung zu Mutter Natur wurde bereits erwähnt. Auch eine Metastase aus dem Bereich der Magie bildet sich hier aus; Manson war besessen von den Tieren Wolf & Skorpion und einer Tradition - beruhend auf der Wiedererweckung von Atavismen („Werd zum Reptil!“) in den älteren Hirnteilen -, die eine Art Tiermagie betreibt, Versuche, sich mit den Totemtieren - wesensmäßig - zu identifizieren. (Manson bastelte auch im Knast immer sehr fein gearbeitete Voodoo -Talismane, darunter den Skorpion, die er dann, incl. Gebrauchsanweisung, verschickte.) Das sei hier erwähnt, weil es wohl Licht auf Mansons intensives Verstehen des Eins -seins mit big mother nature wirft. Er entwickelte im Lauf der Zeit ein Konzept namens „ATWA“ (air, trees, water, animals), Mitglieder der „family“ sagen heute, die damaligen Morde wären im Kampf für „ATWA“ geschehen, man hätte ein Zeichen setzen müssen.

Der Gnostiker fühlt sich unwohl in einer Welt, die er als äußerlich & fremd empfindet & entwickelt eine aristokratische Verachtung gegenüber den Massen, denen er vorwirft, die Negativität dieser Welt nicht zu erkennen; er wartet auf ein finales Ereignis, das den Umsturz dieser Welt herbeiführt, die Explosion, die regenerierende Katastrophe. (Umberto Eco) Der Faschist

The government of the U.S. is at war with their children and the powers of nature and god, and have grown so far above their own judgements that the Waffen-SS are coming back from space left over in dreams.

Mansons Beziehung zum Nationalsozialismus ist eine typisch amerikanische, mythologisierende. Neben seiner Annahme, daß Hitler nur eine weitere, unerkannte Personifikation des Messias war, sei hier kurz obiges Zitat - etwas eingehender

-vorgestellt.

Der Blitz gilt als das ultimative Symbol der Macht (des Ereilens & Ergreifens), die ihm zugeordnete germanische Rune war das S, welches die SS - sich in Spuren vergangener Texte begreifend - wieder aufnahm. Das plötzliche Aufscheinen aus dem Dunkel hat den Charakter einer „Offenbarung“ (Canetti), was sowohl die Aktionen der Waffen-SS als auch die Tate/LaBianca-Morde trefflich beschreibt: das Wollen der Apokalypse. Daß diese Waffen-SS nun aus dem Bereich des Traums & des Verdrängten wieder aufmarschiert, verstärkt noch das Ausmaß des Katastrophisch-Apokalyptischen; die Zeit des Ausnahmezustands ist da: „Helter Skelter coming down fast!“

Maskensprung: Das von Eco den Gnostikern zugeschriebene Verlangen nach Katharsis ist innerhalb der Manson-Texte überall zu verorten („ATWA“,Abraxas, der Rassenkrieg etc.) und an diesen lagern sich - von weit herkommende andere „politische“ Ansätze an. Die „Bewegung 2.Juni“ publizierte kurz nach dem Mord ein „Pig is pig... pig muß putt„-Flugblatt, die radikalen, amerikanischen „Weathermen“ waren nahezu in der Wortwalhl gleich: „Dig it! A pig is a pig & a pig must die!“ & die „Symbionese Liberation Army“ (die mal Patty Herast entführten) schlossen sich Mitte der Siebziger mit Teilen der „family“ zusammen, um Manson aus dem Knast zu befreien.

Maskenspung: Innerhalb des heiligen Kriegs um/wegen „ATWA“ kann es keinen „Mord“ geben, wie Manson einmal sagte. Nun könnte man das ja relativ schnell übergehen & auch Mansons archetypisches Ahnen des Nationalsozialismus übersehen, gäbe es da nicht...; seit 1982 wurde Manson von Führungskräften einer extremen Splitter-Partei der „American National Socialist Party“ besucht. Der Kontakt weitete sich auf die Mitglieder der „family“ aus. Es entstand der „Universal Order“, der transpolitische Flügel der „family“ unter Vorsitz von J.N.Mason - zuvor führender Kopf bei der „American Nazi Party“. Ihm gefiel an Manson und seinen Gefolgsleuten die absolute Aufrichtigkeit, ihre Militanz, sowie ihr Verstehen der „Rassenproblematik“ & ihr Eintreten für das Leben. Mason wurde in das Verstehen von „ATWA“ eingeführt - die Hinfälligkeit eines Denkens in Rechts -/Linksschemata, wo es doch um einen heiligen Krieg ginge. Seitdem firmiert der „Universal Order“ unter dem Zeichen einer Waage, die im Zentrum einer Swastika aufgehängt ist. Der Orden vertreibt die diversen Publikationen von/über Manson, etc. Das Bild der Swastika zieht sich seit Mitte der sechziger Jahre durch den Manson-Text & bildet da eine Vermischung aus Häresie, Umwelt/Energie-Verstehen & Nazi -Affirmation.

Im Anhang an das Manson-File wird eine Unmenge Material (Filme, Bücher, Platten, Comics, etc.) vorgestellt, denen allen die Produktion von Masken gemeinsam ist. Ein Verstehen der damaligen Vorgänge wird verunmöglicht, der „historische“ Kontext splittert sich in unzählige Interpretationen & Ikonen auf, von denen einige hier erläutert wurden. Wenn man dieses Unvermögen selbst einer text-strategischen Aanlyse mal akzeptiert, dann dämmert der Wahrheitsgehalt des Enführungs-Zitats herauf.

Anschließend ein Zitat von Jean Baudrillard, der einen Helden von Manson, den Ayatollah Chomeinigh, betrifft: „Wundern wir uns nicht, daß jemand, der auf direkte & triumphierende Weise die Sprache des Bösen spricht, (...) einen Schwächeanfall in den westlichen Kulturen auslöst. Jegliche Gleichheit, jegliche Rechtmäßigkeit, das erhabene menschliche Gewissen, ja selbst die Vernunft bleibt von dieser Verdammung (Rushdies, d.Red.) auf der Strecke. Noch mehr. Fasziniert von ihr, gerät sie in ihren Bann und wandelt sich, zusammen mit der Gesamtheit der Kommunikationsmedien, in ihren Komplizen. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als sämtliche Mittel der Stigmatisierung & Dämonisierung zu mobilisieren - doch zur gleichen Zeit verfällt sie der gleichen Sprache & gerät in die Falle des in seinem Wesen ansteckenden Prinzip des Bösen.“

Hrsg.: Nicholas Schreck: „The Manson File“, viele Illustrationen, circa 50 Mark, zu beziehen über: Pociaos books, Postfach 190136, 5300 Bonn 1