Die Freiheit und das Brot

■ Andre Glucksmann über die Menschenrechte 200 Jahre danach: Der alte Humanismus ist tot, heute läßt sich Menschenrecht nur negativ bestimmen

Ein unangetasteter Konsens umgibt die französischen Revolutionsfeiern im 200.Jahr: Alle schwärmen von den Menschenrechten. Die Organisatoren der Bicentaire drohen, das Revolutionsgedächtnis vieler Franzosen auf ein einziges Jahr, wenn nicht gar einen Tag zusammenschrumpfen zu lassen. Nämlich auf das Jahr 1789, genauer: den 26.August, den Tag der Verkündung der ersten universellen Menschenrechtserklärung. Mit ihrem Postulat, das dem Menschen Meinungsfreiheit und Eigentum sichert und im Staat die Gewaltenteilung einführt, sei die Revolution bereits beendet, sagen liberale Historiker. Was danach kam, versteht sich, war ein Abgleiten in Terror und Bolschewismus. Mit der Revolutionsdebatte scheint auch der Menschenrechtsbegriff ins Schleudern zu geraten. Denn was bezeichnen wir heute als Menschenrechte? Gemeinhin stützen wir uns auf die Uno -Menschenrechtserklärung von 1948, die auch die sogenannten sozialen Rechte garantiert. Gleichzeitig verkörpert die Uno -Erklärung einen gesellschaftstheoretischen Kompromiß zwischen marxistischer und liberaler Weltanschauung, demzufolge sich Freiheitsrechte und soziale Rechte gegenseitig bedingen. Doch nun behaupten französische Philosophen, die Menschenrechtserklärung von 1789 sei ausreichend. Sie wollen den marxistischen Aufklärungsbegriff, der sich in den sozialen Menschenrechten niederschlägt, rückgängig machen - mit neuen, zeitgemäßen Begründungen.

Diese französische Philosophie schließt an die Debatte der Historiker an. Denn wer glaubt, daß die Revolution 1789 schon beendet war, der wird kaum verstehen, warum die Arbeiterbewegung anderthalb Jahrhunderte lang kämpfte, damit in der Uno-Menschenrechtserklärung von 1948 auch die Rechte auf menschliche Arbeitsbedingungen und Bildung niedergeschrieben wurden.

Die Diskussion über Menschenrechtsbegriff und „Menschenrechtsrevisionismus“ eröffnet die taz im Gespräch mit drei französischen Gegenwarts-Philosophen: Andre Glucksmann, Claude Lefort und Jean-Marie Benoist. Ihre gemeinsame These lautet: Die Menschenrechtserklärung von 1789 steht uns näher als die von 1948. Rückschritt oder Fortschritt? Im Zeitalter linken Utopieverlusts und kommunistischer Palastrevolutionen geraten fortschrittliche und revisionistische Begriffe leicht durcheinander (bis zum 26.August, dem Jubiläumstag, veröffentlicht die taz die anderen Beiträge zum Thema).

gb

taz: Wer heute von den Menschenrechten spricht, der bezieht sich in der Regel auf die Uno-Menschenrechtserklärung von 1948, die von den meisten Regierungen unterzeichnet ist. Dort werden dem Menschen die in Frankreich bereits 1789 formulierten Freiheitsrechte garantiert. Aber es werden auch die sogenannten sozialen Rechte erwähnt, wie etwa das Recht auf Arbeit. Sowohl im Westen wie im Osten schien man zu der Auffassung gelangt zu sein, daß sich weder die einen noch die anderen Rechte ohne die jeweils anderen verwirklichen lassen. Sie schlagen heute vor, unseren Menschenrechtsbegriff erneut auf den des Jahres 1789 zurückzuführen. Ist es Nationalstolz oder historischer Revisionismus, der Sie zu Ihrer neuen Menschenrechtsphilosophie treibt?

Andre Glucksmann: Keins von beiden. Ich behaupte ja auch nicht, daß es unter den Menschenrechten gute und schlechte oder nötige und unnötige Rechte gibt. Das wäre eine politische Betrachtungsweise. Statt dessen müssen wir zu einer philosophischen und historischen Definition der Menschenrechte gelangen. Prinzip Nummer eins: Das Recht auf Freiheit steht über dem Recht auf Brot. Denn eine Regierung, die ihrem Volk nur Brot und keine Freiheit gewährt, behandelt es wie Vieh. Um menschliche Lebensbedingungen zu erreichen, muß man sie einfordern, also die Freiheit besitzen, fordern zu können, also die Freiheit tout court. Je weniger Freiheit es gibt, desto weniger Brot.

Damit wir die Verwirklichung der Menschenrechte nicht von Fall zu Fall, sondern nur noch von Epoche zu Epoche überprüfen?

Im Gegenteil. Damit wir jeden Fall pragmatisch und ohne Illusionen überprüfen können. Seit 1789 hat es drei geschichtliche Perioden gegeben, in denen sich der Menschenrechtsbegriff jeweils gewandelt hat. In der ersten Periode glaubte man in Europa, daß die Menschenrechte den Humanismus bereits in sich tragen. Europa verstand sich als Täger einer positiven Idee vom Menschen, nach der die Welt erzogen werden mußte. Der Mensch sollte in Krankenhäusern und Schulen leben. Er sollte in einer Nation leben und nach Maßstäben der europäischen Zivilisation. Darin waren sich die Sendungsgeister der dritten französischen Republik und die Bismarckschen Kulturkämpfer einig. Erst mit den beiden Weltkriegen dieses Jahgrhunderts rückt diese Vision des optimistischen, positiven Humanismus wieder in den Hintergrund. Als Hitler erscheint, glaubten wir noch, daß dieser Mann so schlecht nicht sei kann, daß er sich nur ein wenig täuschte. Aber letztlich gelingt es nicht, vor der Barbarei die Augen zu verschließen. Deshalb folgt bald eine zweite, nihilistische Periode, in der man die Menschenrechte weit von sich weist. In Deutschland beginnt diese Zeit bereits mit dem antihumanistischen Denken von Heidegger und Jünger. Später erklärte sich in Frankreich der Marxismus zur anti-humanistischen Theorie. Schon bei Marx gab es ja eine Anschaung, daß es sich bei den Menschenrechten von 1789 um rein formale Rechte handele.

Sie selbst waren vor etwa 15 Jahren noch ein Vertreter solcher Thesen.

Selbstverständlich. Wie jedermann habe ich früher die Menschenrechtserklärung zusammengeknüllt und in den Papierkorb geworfen. Dieses Denken überlebte in Frankreich länger als andernorts, war aber nicht frankreichspezifisch. Überall krankte die Linke an Arbeitertümelei und gab es die Auffassung, daß die Kommunikationsfreiheit ganz und gar zweitrangig gegenüber der Freiheit des Handarbeiters war, den Hammer zu schwingen. Hitler war ja ähnlicher Meinung.

Die dritte Periode dauert an. Sie wird von den Dissidenten im Osten und den demokratischen Bewegungen in der Dritten Welt bestimmt. Diese Leute haben die Menschenrechte als bestes Heilmittel gegen Diktaturen ganz gleich welcher Art entdeckt. Hinter diesem Menschenrechtsbegriff steht nicht mehr der alte Humanismus. Denn wir wissen nicht mehr, wie der Mensch beschaffen ist, wie er leben, handeln und denken soll. Wir wissen nur, was er nicht machen darf. Wir wissen nicht, was das Paradies auf Erden ist, aber wir wissen, was eine Militärdiktatur ist, was Konzentrationslager sind und wie man in Gefangenenlagern foltert. Wir wissen, was Kolonialkriege sind, die Misere und die Prostitution. Und deshalb mußte sich auch der Menschenrechtsbegriff verändern. Die Menschenrechte lassen sich heute nur noch negativ definieren - als Staudamm gegen das Unmenschliche. Wir müssen nicht wissen, was der Mensch ist, wir müssen nur wissen, was unmenschlich ist. Zu diesem Wissen sind nicht einmal die Intellektuellen nötig. Unser Jahrhundert hat uns genug Katastrophen beschert. Ansonsten reicht es, die 20-Uhr -Nachrichten im Fernsehen zu sehen.

Singen Sie damit das alte Lied, daß der Mensch von Natur aus schlecht ist? Womöglich sind dann die Menschenrechte unser letzter Rettungsanker!

Die Menschen sind zu allem fähig, Gutem und Schlechtem. Aber Gott existiert nicht, zumindest nicht auf der Erde. Und er kümmert sich nicht um uns. Das aber wagt niemand zu sagen. Alle sagen, die Menschenrechte gründen sich auf unserer jüdisch-christlichen Zivilisation. Das ist doch Gerede, was die fehlende Ideologie ersetzen soll. Die religiöse Ideologie wollte uns weismachen, wie wir am besten das Paradies nachahmen. Die marxistische Ideologie wollte uns weismachen, wer der neue Mensch ist. Und heute will man uns weismachen, was eine humane Gesellschaft ist. Immer die gleiche Illusion!

Wollen Sie denn bestreiten, daß das Postulat der Menschenrechte, sowohl 1789 wie 1948, dazu gedient hat, unsere Gesellschaften menschlicher zu gestalten?

Nein. Nur dienen die Menschenrechte auch heute noch als eine geistige Garantie für eine Utopie vom guten Menschen. An dieser Frage läßt sich auch die historische Differenzierung zwischen den Menschenrechtserklärungen von 1789 und 1948 vollziehen. Die Philosophie, die der Erklärung von 1789 zugrunde liegt, ist eine Philosophie des Kampfs gegen den Despotismus. Die Perspektive von 1789 hieß: Nieder mit dem König, dem Tyrannen, dem Diktator! Diese Perspektive ist fürs 20.Jahrhundert aktueller als die Fortschrittsphilosophie, auf die sich die Menschenrechtserklärung von 1948 beruft. 1948 glaubte man an den Fortschritt. Diesen Fortschritt wollte man in Richtung des sozialen und kulturellen Fortschritts und der Freundschaft unter den Völkern lenken. Darin lag ein großer Optimismus. Nur gibt es keinen Grund, nach Auschwitz und dem Gulag allzu optimistisch zu sein.

Stehen Sie damit nicht allein auf der Welt? Jede soziale, jede politische Bewegung hat ihre Utopie, ohne die es sie nicht geben würde.

Ich bin nicht allein. Ich arbeite mit Organisationen wie amnesty international oder „Ärzte ohne Grenzen“, deren Praxis bereits auf einem negativem Menschenrechtsbegriff beruht. Sie kämpfen gegen die Ungerechtigkeit, ohne recht zu wissen, wie die vollständige Gerechtigkeit oder die ideale Gesellschaft aussieht. Demgegenüber bieten unsere geistigen, politischen und religiösen Eliten immer noch den alten, positiven Humanismus des 19.Jahrhunderts an. Deshalb glaubt ihnen auch niemand mehr.

Aber wer glaubt Ihnen? Für die Menschenrechtsbewegungen von heute, etwa für die Anti-Apartheid-Bewegung, ist der Glaube an Gleichheit und Brüderlichkeit ein tragendes Moment.

Richtig. Aber diesen Optimismus gibt es nur im Gespräch und in der Rede, nicht in der Praxis. In der Praxis tun sich die Menschen heute nicht mehr zusammen, um den guten oder besseren Menschen zu suchen. Utopien mobilisieren nicht mehr. Die Leute lassen sich nur noch gegen etwas mobilisieren: die Jugend gegen den Rassismus, die Studenten gegen Selektion und Ausgrenzung und die Arbeiter gegen Arbeitslosigkeit. Diese Bewegungen können sehr konservativ sein. Darin liegt eine Gefahr. Aber es können auch humanistische Bewegungen sein, im Sinne des negativen Humanismus, den Kampf gegen das Unmenschliche. Deswegen löste sich die französische Studentenbewegung von 1986, nachdem sie die geforderte Gesetzesänderung erreicht hatte, sofort wieder auf. Im Mai 1968 war das noch anders, als man an den Menschen und die Revolution glaubte. So brach die Mai -Bewegung lange Zeit nicht ab und dauerte über Jahre.

In der Bundesrepublik sind Sie für Ihre Hetzreden gegen die Friedensbewegung bekannt. Darauf wollen wir nicht zurückkommen. Aber sind nicht gerade Ökologie- und Friedensbewegung in Ihrem Sinn „Gegen„-Bewegungen, die Katastrophen vermeiden wollen?

Ich bin nach wie vor ein Anhänger der Abschreckung. Leichter fällt es mir, den Ansatz der Ökologiebewegung nachzuvollziehen. Ihr positives Moment liegt in der „Gegen„ -Bewegung, gegen die Umweltverschmutzung, gegen Unterdrückung. Dagegen lehne ich das Katastrophendenken in der Ökologiebewegung ab. Den Glauben, daß die technische Entwicklung zwangsläufig in die Katastrophe führe.

Und doch stellen auch Sie die ständige Möglichkeit einer Katastrophe in den Mittelpunkt Ihres Menschenrechtsbegriffs.

Weil wir vor dieser Möglichkeit volle Veranwortung tragen. Weil uns die Technik sowohl zum Besten (in meinem Sinne: Abschreckung von Katastrophen) wie zum Schlimmsten befähigt. Weil uns die Technik die Verantwortung zuträgt.

Braucht der Mensch - um Verantwortung zu tragen - nicht genauso die Einlösung der sozialen Rechte, Essen und Trinken, wie die Einlösung der Freiheitsrechte? Schrieb die Uno 1948 die sozialen Rechte nicht gerade deshalb in die Menschenrechtserklärung, um die Katastrophe, den Faschismus, ein zweites Mal zu vermeiden?

Was ich der Menschenrechtserklärung von 1948 anlaste, ist nicht etwa, daß sie soziale Errungenschaften postuliert. Damit bin ich einverstanden. Aber sie vergißt, daß diese Errungenschaften immer das Resultat eines Kampfes sind. Die Rechte von 1789 machen einen solchen Kampf möglich. Deshalb sind sie absolut fundamental: Man bekommt kein Brot ohne Freiheit. Aber sie versuchen, ihn nicht zu ersetzen. Wir sollen uns nicht einbilden, daß der Kampf für Gerechtigkeit jemals ein Ende hat.

Die Revolution geht weiter?

Jeder Franzose weiß, daß man von Zeit zu Zeit die Regierung kippen muß, wenn nötig mit Gewalt. Jeder Franzose weiß aber auch, daß man mit der Gewalt sehr vorsichtig sein muß, da sie auch zum Allerschlimmsten führen kann. Das haben die Franzosen 1789 gelernt.

Aber vielleicht nicht für alle Ewigkeit. Heute feiert Frankreich die Menschenrechte, kaum mehr die Revolution.

Mit dem 200jährigen Jubiläum soll die französische Revolution beerdigt werden. Die Feierlichkeiten bestehen darin, daß man sagt, wir hätten die Revolution besser gar nicht machen sollen, oder besser auf amerikanische oder sowjetische Art. Das offizielle Frankreich träumt die Menschenrechte ohne Guillotine, ohne Gewalt, als etwas also, das so nicht existiert und nie existierte. Dabei steht gerade die französische Revolution heute auf der Tagesorndung. Es reicht, auf den Tiananmenplatz zu schauen. Es reicht, Gorbatschow zu beobachten. Der will doch mit 70 Jahren Verspätung den Thermidor.