Die Aporien des „negativen Humanismus“

■ Glucksmanns Menschenrechtsbegriff gibt keine Antwort auf die einer Risikogesellschaft angemessene politische Ordnung

Der große Vereinfacher hat wieder einmal zugeschlagen: Andre Glucksmann entdeckt, 200 Jahre nachdem die Revolution vorbei ist, daß das einzig Wahre an ihr in der Erklärung der Bürger - und Menschenrechte liege. Von da an ging's bergab.

Scheinbar schließt sich der Ex-Maoist und Neu-Philosoph nun als dernier venu auch dem nach-sozialistischen Credo der Pariser Bicentenaire-Feiern an: Für Mirabeau - gegen Robespierre; für Toqueville - gegen Rousseau; für Furet gegen Vovelle; für den Westen - gegen den Osten. Aber er tut auch dies mit der gewohnten Grobschlächtigkeit.

Hatten die Citoyens der Nationalversammlung am 26. August 1789 sich noch darauf beschränkt, in der Erhaltung der natürlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen die Unterdrückung (Art. 2) - das Ziel aller politischen Vereinigung (association) zu postulieren, so habe danach der „positive Humanismus“ um sich gegriffen. Mit dem Versuch, eine „gute“ Idee des Menschen als „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ (Hegel) in die Wirklichkeit umzusetzen, begann dann auch das Verhängnis: Ob jakobinische Diktatur, ob bolschewistische Revolution, ob sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat - die besten Absichten hatten immer die schlechtesten Folgen. Kehren wir darum zu einem „negativen Humanismus“ zurück. Wir wissen, daß Folter unmenschlich ist.

Glucksmann hat recht: Zu diesem Wissen braucht man kein Intellektueller zu sein, nicht einmal ein neuer Philosoph. Als Äußerung einer moralischen Intuition - der Unerträglichkeit der Bilder vom chinesischen Platz des Himmlischen Friedens oder des Gaskrieges zwischen Iran und Irak, der Berichte aus Konzentrationslagern und dem Gulag ist sein Slogan brauchbar. Als philosophisches Modell, das sich vage an den liberalen Menschenrechtsbegriff anschließt (vorstaatlicher, natürlicher Rechte, die vor der politischen Ordnung zu schützen sind), ist er dagegen historisch falsch und politisch, was sage ich, moralisch unbrauchbar.

Wenn Glucksmann sich auf den „König der Revolutionsfeiern“, Fran?ois Furet, als den Verwalter des postrevolutionären common sense in der Wahlmonarchie Mitterrands zu berufen meint, so irrt er: Das Paradox der „Ideen von '89“ der Mirabeau, Talleyrand, Sieyes besteht gerade darin, daß sie zur Begründung einer konstitutionellen Monarchie nicht auf Montesquieus Gewaltenteilung rekurrieren, sondern auf einen

-wie sich Jean Starobinsky zu Recht ausgedrückt hat „diffusen Rousseauismus“. Das Pathos der „Erfindung der Freiheit“, der Eröffnung eines neuen politischen Raumes äußerte sich in der Idee der Souveränität, der aus dem Gesellschaftsvertrag hervorgehenden „einen und unteilbaren Nation“ (Art. 3). In diesem Phantasma der Souveränität aber sieht Furet (zu recht) die antiliberale Bewegungsform der französischen Revolution angelegt - eher als in der Suche nach den sozialen Bedingungen des „Glücks aller“ (Präambel der Erklärung), deren Echo sich dann auch in der UNO -Menschenrechtserklärung finden wird.

Ein konfliktueller politischer Raum mit checks and balances (a la Anglaise) fehlte nämlich nicht erst der Jakobinerverfassung des Jahres I von 1793 (die das „heiligste Recht“ des Volkes auf Aufstand proklamiert, aber nie in Kraft tritt), er fehlte auch schon der Vorstellungswelt der Parteigänger Mirabeaus (der selbst auch lieber im geheimen mit dem König verhandelte). Der Revolutionär endlich, der am ehesten unserem heutigen postmarxistischen Freiheitsverständnis entspricht, Condorcet, war gleichzeitig in der Verfassungsdebatte einer der vehementesten Rousseauianer.

Vorpolitischer

Menschenrechtsbegriff

Alle Ehre dem „anti-humanistischen“ Glucksmann von '68, der sich heute zum „negativen Humanisten“ von '89 bekehrt hat: Alle Kritiker der Elche waren früher selber welche. Doch die Berufung auf einen vorpolitischen Menschenrechtsbegriff ist zwar ein guter Werbeslogan für Band Aid und amnesty international und Karol Wojtylas Einforderung der Religionsfreiheit in atheistischen Regimes (und sollte hier durchaus auch seine Dienste tun), das Problem einer costitutio libertatis (Hannah Arendt), einer der heutigen Welt- und Risikogesellschaft angemessenen politischen Ordnung, löst er nicht.

Der ehtische Liberalismus steht nicht erst seit heute vor dem Problem der „Koexistenz der Freiheiten“ (Norberto Bobbio) - wie vertragen sich beispielsweise Eigentumsrecht und Assoziationsfreiheit miteinander? Das „Loi Le Chapelier“ verbot Streiks...

Wenn es heute zur Aufgabe der Linken wird, „Minima zu garantieren, statt Maxima zu realisieren“ (Claus Offe), so erfordern gerade diese Minima (z.B. garantierter Datenschutz, Grundeinkommen, gleiche Krankenvorsorge) heute ein Mehr an demokratischer Politik, nicht ihren Rückzug in ein prä-rousseauistisches Paradies.

Last - but not least: Die Erklärung von 1789 beginnt mit der Behauptung, daß die Menschen als frei und gleich „geboren werden“ (Art.1). Der italienische Verfassungsjurist Stefano Rodota hat bei einem Gedankenspiel, die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte zu aktualisieren, als Artikel 4 hinzugefügt: „Alle Menschen haben ein Recht auf den Respekt ihres Lebens und ein Anrecht auf ein nicht manipulierbares genetisches Erbe.“ Spätestens hier - aber gehört zum habeas corpus von heute nicht auch ein Recht auf einen Tod in Würde? - wird deutlich, daß die Berufung auf publicity-trächtige, mehr oder weniger ehrenwerte Parolen eines „negativen Humanismus“ nicht ausreicht: Die Einigung über die Reichweite unserer ethischen Intuitionen, über ihren genauen Bedeutungsgehalt und Verpflichtungscharakter kann nur in Form einer demokratischen Auseinandersetzung gefunden werden. Für diese brauchen wir sicherlich die „negativen“ Garantien der Meinungs-, Diskussions- und Wissenschaftsfreiheit; diese allein aber sind ohne „positive“ Vorstellungen von Menschenwürde nicht in der Lage, die „Erhaltung des Glücks aller“ (Präambel der Menschenrechtserklärung) zu gewährleisten. Die bloße Berufung auf den „gemeinsamen Nutzen“ (Art. 1) als Grenze staatlichen Handelns und sozialer Unterschiede könnte sich als sittlich blind erweisen.

Otto Kallscheuer