Brady-Plan wäre „ideologischer Wendepunkt“

Ein Stratege des Pariser Gegengipfels schreibt der öffentlichen Meinung bei den „G7-Treffen“ großen Einfluß auf die offiziellen Abschlußkommuniques zu  ■ I N T E R V I E W

Einst Berater Mitterrands im Elysee-Palast, dann Autor zweier in Frankreich vielbeachteter Schriften zur alternativen Wirtschaftstheorie, und nun seit einem Jahr Mitglied der grünen Partei „Les Verts“: Alain Lipietz gehört seit einem Jahrzehnt zu den Vordenkern der französischen Linken. Kein Wunder also, daß der Pariser Gegengipfel zum Treffen der sieben westlichen Staatschefs, „The Other Economic Summit (TOES), seine politische Handschrift trägt.

taz: Die TOES-Treffen am Rande der Weltwirtschaftsgipfel begannen 1984 mit dem Ziel, kompetente Wissenschaftler zur Gegen-Expertise zusammenzubringen. Heute findet im Rahmen von TOES erstmals der „Gipfel von sieben der ärmsten Völker“ statt, der als Bühne für Betroffene konzipiert ist. Wo siehst du, zwischen Gegenexpertise und Vermittlung von Betroffenheit die Aufgabe eurer Gegenveranstaltungen zum Weltwirtschaftsgipfel?

Alain Lipietz: In Paris fließen drei Traditionen von Gegenaktionen zusammen, erstens die TOES-Initiative, die seit 1984 wissenschaftliche Gegenexpertise unternimmt, und zweitens die Kampagne der Liga für die Rechte und die Befreiung der Völker, die die Bundesdeutschen vom Weltbankkongreß in Berlin kennen. Und drittens der Wille, nicht nur Fachleute, sondern auch Betroffene selbst miteinander ins Gespräch zu bringen. Das Ergebnis dieser Überlegung, der „Gipfel von sieben der ärmsten Völker“, ist sicherlich unsere spektakulärste Initiative. Sie baut natürlich nicht zuletzt auf das Ritual von 1789. Uns geht es darum, ein neues Reklamationsbuch („cahier de doleance“) zu schreiben, so wie es einst die große Protestbriefbewegung von 1789 tat, deren Abschriften dem König kurz vor der Einberufung der Generalstände vorgelegt wurden.

Die Gegengipfel sind keine Entscheidungsinstanzen. In Widerspruch, aber auch in Ergänzung von Betroffenenberichten und wissenschaftlichen Vorschlägen sollten sie ihre eigene Dynamik finden. Die macht sie auf Dauer zu einem wirklichen Gegenereignis.

Bürgerliche Beobachter ironisieren nicht selten die eigentliche Bedeutung der Weltwirtschaftsgipfel, die ihrer Meinung immer mehr zu einem aufwendigen Medienereignis geraten. Teilst du diese Ansicht?

Die Weltwirtschaftsgipfel von 1975 bis 1979 reflektieren die Periode einer staatsgelenkten Wirtschaftspolitik im Sinne Keynes‘. Der Gipfel von 1980 - Reagan war damals noch nicht gewählt - stellt bereits die Wende zum Monetarismus dar. Zum damals einsetzenden Auftrieb liberaler Wirtschaftpolitik kommen in den achtziger Jahren die Krisenschwerpunkte Dritte Welt und Ökologie hinzu. Doch in jedem Jahr ist es auffallend, daß die Entscheidungen der sieben Staatschefs dem „common sense“ der Welteliten um einige Monate, wenn nicht gar ein Jahr voraus sind. In diesem Sinne haben die Weltwirtschaftsgipfel eine eindeutige Funktion in der weltweiten Meinungsbildung.

Eine Meinungsbildung, von der die Öffentlichkeit ausgeschlossen scheint?

Nein. Dies ist ein gängiges Fehlurteil. Tatsächlich zeigt sich in jedem Schlußkommunique der sieben Länder eine außerordentliche Sensibilität für die öffentliche Meinung des jeweiligen Gastgeberlandes. Dies gilt für alle Weltwirtschaftsgipfel mit Ausnahme des Jahres 1982, als sich das Gastgeberland Frankreich kurz nach dem sozialistischen Wahlsieg in einer Außenseiterrolle befand. Es ist kein Zufall, daß der Londoner Gipfel von 1984 in einem spektakulären Zynismus endete. Damals glich das Schlußkommunique einem liberal-konservativen Glaubensbekenntnis, in dem die sieben Staatschefs ihre Freude darüber betonen, daß mehr und mehr Länder der Dritten Welt „die schmerzhaften Lösungen“ akzeptieren, die ihnen der Internationale Währungsfonds auferlegt. Ein Jahr später aber treffen sich dieselben Staatschefs in Bonn unter dem Druck einer sehr viel kritischeren und umweltbewußteren öffentlichen Meinung. Plötzlich spricht man von der untragbaren Schuldenlast der Dritten Welt und wendet sich insbesondere der Ökologiefrage zu. In einem Kapitel des Schlußkommuniques, das der öffentlichen Meinung in Frankreich um vier Jahre voraus ist, sehen die Staatschefs die ökologische Krise nunmehr im Mittelpunkt der Weltwirtschaftskrise und zählen die Probleme der Reihe nach auf: Saurer Regen, Treibhauseffekt, Ozonschicht etc. Alles spricht dafür, daß die öffentliche Meinung am Rande der Weltwirtschaftsgipfel ein relativ bedeutendes Gewicht hat.

Erhoffst du 1989 ein konkretes Ergebnis?

Wenn die Sieben in diesem Jahr den Brady-Plan verabschieden, würde es sich dabei um eine völlig neue Rechtssprechung handeln, die selbst sogenannten Schwellenländern erlauben würde, sogar private Schulden nicht zurückzuzahlen. Unter dem Vorsitz Mitterrands, der nach der Großdemonstration am vergangenen Wochenende an diesem Punkt einem starken Druck der Öffentlichkeit ausgesetzt ist, wäre eine Entscheidung in diesem Sinne denkbar, auch wenn finanzielle Begleitmaßnahmen noch ungeklärt bleiben. In jedem Fall wäre es ein ideologischer Wendepunkt.

Interview: Georg Blume