UNGEHINDERT UNGEHEMMT

■ Die reisende Zeltstadt „Mir Carawane“ ist in Berlin angekommen

Seit Mittwoch bietet sich dem ahnungslosen Tiergartenstreuner ein bizarres Bild, wenn er die Straße des 17.erreicht; spätestens beim Stolpern über Zeltpflöcke, die sich erbarmungslos in den Asphalt gebohrt haben, wird klar das ist kein Traum. Zwischen dem Brandenburger Tor und dem goldenen Flattermann hat sich eine Zeltstadt aufgebaut. Statt langweiliger Auto-an-Auto-Grill-neben-Grill-Romantik nun also Zelte, Lagerfeuer und sowas ähnliches wie Brüste aus Pappmache auf dem Mittelstreifen. Beim Passieren der Wagenburgen Fetzen der unterschiedlichsten Sprachen Europas. Drei Wochen lang wird diese geschichtsschwangere Straße gesperrt sein - freie Fahrt für die internationale Abfahrt.

Die Mir Caravane hat, nach Stationen in Moskau, Warschau, Leningrad und Prag, nun in Berlin ihre Carawanserei aufgebaut. Zehn freie Theatergruppen aus Ost- und Westeuropa werden hier noch bis zum 30.Juli ihre Produktionen zeigen. Über 200 Schauspieler aus England, Frankreich, Spanien, Polen, Italien, Holland, der CSSR, der Sowjetunion und aus Berlin versuchen in einem Spiel ohne Grenzen das Straßentheater aus seinem Fußgängerzonendunst zu befreien und einem breiten Publikum vorzustellen. „Wir haben damit absolutes Neuland betreten“, sagt Rudolf Brünger von der UFA -Fabrik und Mitorganisator, „nie hat es ein derartiges Projekt, von unten heraus sozusagen, gegeben.“

Von unten heraus bedeutet, daß das Projekt von den Künstlern selbst entworfen und organisiert wurde. Ohne Sponsoren und ohne größere Institutionen. Die Caravane suchte in den Städten, in denen sie spielt, Kontakt zu den alternativen Kultur-Institutionen, und die übernahmen dann jeweils die lokale Organisation, wie in Berlin die UFA -Fabrik. Die Hürden der Bürokratie waren hoch gehängt, aber bezwingbar. Nur der Wunsch der Caravane, in Ost-Berlin zu spielen, ging leider nicht in Erfüllung. Das Gastspiel der Wohnwagen und Zeltcaravane scheiterte „am Bettenmangel“, so die offizielle Begründung.

In Prag ihrer letzten Station vor Berlin, sorgte die Caravane für das erste freie Theaterfestival seit 25 Jahren. In nur drei Tagen zog sie über 12.000 ZuschauerInnen an, und brachte es fertig, daß Tschechen sich ausgiebigst über russische Clowns beölten, seit '68 wohl eher eine Seltenheit. Dagegen gab es in Berlin mit den Behörden einige Schwierigkeiten. Bis Ende Februar war die Frage der Subventionsförderung immer noch nicht geklärt, obwohl die Caravane schon fast unterwegs war. Die Gesamtkosten des Spektakels betragen 5,5 Millionen Mark, 1,2 Millionen kostet der Berliner Auftritt. Schlappe 60 Prozent gibt es nun vom Lotto dazu - für den Rest steht die UFA gerade.

In Berlin hat die eigentliche Idee der Mir Caravane ihre Premiere: Odyssee '89 heißt ein Stück zum Thema „Freiheit und Menschenrechte“, das alle Schauspieler zusammen am 30.uraufführen werden. Aufgeführt werden soll es eigentlich vor dem Reichstag, eine Entscheidung ist aber auch hier noch nicht gefallen. Und selbst wenn alles klappt, wäre das eine Premiere mit Prämissen: Frau Süßmuth, ihres Zeichens Hausmeisterin, hat sich noch etwas eigen mit der Treppenbenutzung... - daß Schwenkows Franzosen dort ungehindert, ungehemmt rumturnen dürfen, scheint ihrem Bild europäischer Kulturpolitik wohl eher nahezukommen.

Ungehindert, ungehemmt ist aber auch das Programm der Caravane. In den vier Zelten und dem Freilichttheater werden in 60 Aufführungen zwanzig verschiedene Stücke dem Publikum zeigen, daß Straßentheater viel mehr sein kann als das Jonglieren von drei rohen Eiern vor dem Steglitzer Kreisel. Absolute Höhepunkte außer der Odyssee '89 dürften zwei Produktionen sein, die ebenfalls nicht auf der Straße des 17.Juni stattfinden. Katastrophe der Gruppe Licidei aus Leningrad sorgte in der UdSSR bereits für großes Aufsehen. Zum Thema Tschernobyl wird sie das Reichstagsgebäude in eine Schaumlandschaft verwandeln. Ausgelassener wird sicher die Full-Moon-Party vor der Kongreßhalle, dazu trifft aus Amsterdam der Magic Bus der „Amsterdam Balloon Company“ ein, die letztes Jahr beim Trans-Europe-Festival schon für einen grellen Auftritt sorgte.

Tine Wagnis

Termine siehe La Vie.