Die Wirklichkeit lieber

■ Kein Text zum 14. Juli: Ein Gespräch mit einer Pariser Stadtstreicherin

Ich sah sie von der Rolltreppe aus. Sie saß auf einem Stuhl hinter drei großen Kübelpalmen im Centre Pompidou. Sie weckte meine Neugier, weil sie las. Sie las die Zeitung, aber nicht nur eine, sondern eine nach der anderen. Vor und neben ihr standen Plastiksäcke, prall gefüllt mit bedrucktem Papier. Sie hatte grüne Augen.

Ich stand lange hinter ihrem Rücken, ohne daß sie es bemerkte. Sie war vollkommen vertieft in die Lektüre. Ich beugte mich vor, um den Text zu entziffern. Es waren nach dem Arrondissement geordnete Hochzeitsannoncen. Nach einer Weile (in der die Rolltreppe etwa 200 Besucher heruntergespült hatte) faltete sie die Zeitung säuberlich zusammen und steckte sie wie eine wichtige Akte zwischen andere in die große Plastiktüte. Sie zupfte mit feinen Fingern im geordneten Wust der Zeitungen und holte sich nach längerer Suche eine neue heraus. Ihre Bewegungen sahen aus, als wären sie die Wiederholung eines uralten Rhythmus.

Diese innige Beziehung zu den beliebigen Texten schien absurd, für Sekunden komisch, dann tiefernst. Eine Leserin, die verkörperte Leserin. Ich sprach sie an. Um die Gelegenheit nicht ungenutzt vorübergehen zu lassen. Ich zeigte auf die drei dicken Säcke. „Haben Sie das alles gelesen?“ Zustimmendes Nicken. „Ja mehrmals.“ Eine regelrechte Bibliothek stand also vor mir, unbemerkt zwischen der Rolltreppe und der Glasscheibe der Außenwand. Eine heimliche Bibliothek im größten Kulturzentrum von Paris.

Seit sieben Jahren lebt sie in der Stadt. Vorher hatte sie in Lyon als Kunsthandwerkerin gearbeitet, Spielzeug hergestellt. „Das kann man in Frankreich immer verkaufen, immer!“ Seit sieben Jahren sammelt sie bedrucktes und beschriebenes Altpapier. Ich erkene im Sack eine Reihe von Zetteln mit verschiedenen Handschriften. Einige sind lose Notizzettel, andere sehen aus wie Briefe. Die Leute schmeißen alles weg, wenn sie es einmal gelesen haben, Zeitungen und Briefe auch.“ Es gibt tatsächlich eine Abteilung für Handschriftliches in der blauen Mülltüte. In den Papierkörben der Metrogänge und Parkanlagen findet sie das Material zu ihrem Archiv der verstreuten Nachrichten, Botschaften und Billets. Sie verwaltet diese kleine Welt aus Zetteln mit der Diskretion eines guten Kellners, der über die Geheimnisse oder Macken seiner Gäste schweigt. Kein Tratsch.

Sie schüttelt mißbilligend den Kopf. „Sind Sie Journalist?“ fragt sie plötzlich. Ehe ich antworten kann, tut sie es selbst. „Wahrscheinlich. Denn nur Journalisten interessieren sich für alles und stören alle.“ Bücher liest sie keine, weil die zu schwer für ihre mobile Bibliothek wären. Ich bin ihrem Rätsel auf der Spur. Sie liest, wenn andere längst aufgehört haben. Sie füllt einen Raum aus, der sonst leer bliebe, den Luftraum über Zeitungen und anderen Zetteln, wenn ihr Erscheinungsdatum bereits wochenlang verstrichen ist. Es gefällt ihr, Leerräumen einen Sinn zu geben, daher setzt sie sich auch dorthin, wo niemand gewöhnlich sitzt: zwischen Rolltreppe und Außenwand, versteckt hinter Kübelpalmen, zwei, drei Quadratmeter autonome Zone im Centre Pompidou.

Während wir reden, behält sie die Zeitungen im Auge. Am Ende eines langen Satzes oder einer Erklärung blickt sie nachdenklich auf eine Hochzeitsannonce oder die Graphik eines Wetterberichtes, als lägen dort die Antworten auf ungelöste Fragen. „Ich lese, weil ich wissen will, was passiert. Ich bin alt, vielleicht zu alt. Man müßte sich bewegen. Das ist aber gefährlich für Alte. Es passieren Unfälle. - Deshalb muß ich so viel lesen.“

Sie weiß Bescheid über die wichtigen Dinge: Sie kennt verschwiegene Orte in Paris, wo ausgefallene Sammlungen versteigert werden. Ein Freund in Finanznöten mußte dort, sie schüttelt traurig den Kopf, seine Sammlung lassen: Hunderte von Streichholzschachteln mit Tierbildern, die innen aufgeklebt waren. Paris, die Kunstmetropole Europas.

Sie weiß auch über Kleinigkeiten Bescheid, zum Beispiel über Europa. Den Mythos fegt sie schnell vom Tisch. „Europäer haben nur eines gemeinsam: ihren Egoismus. Der Rest ist Quatsch.“ Ich nicke. Dann entwickelt die Stadtstreicherin eine vollständige und elegante Analyse der europäischen Ökonomie, in der sie souverän mit „Inflation“, „Überproduktion“ und „Profitzuwachs“ hantiert wie eine hochdotierte Expertin aus Brüssel. Ich staune nicht, sie ist rätselhaft und mitunter radikal: „Das Lesen nützt überhaupt nichts, es führt zu nichts. Es ist nur für mich selbst.“

Sie schaut versonnen auf die staubigen Blätter der Kübelpalmen. Die Rolltreppe klappert monoton. Sie biegt einen abgebrochenen Blattstengel gerade. „Wir müssen aufpassen. Die Aufseher haben gesagt, daß ich die Blumen nicht beschädigen darf.“

Ich verabschiede mich. Draußen lärmt die ewiggleiche Kleinkunst vor dem Centre Pompidou, der Feuerspeier, der Pantomime, die Gitarrenspieler. Hinter dem Fenster sehe ich sie sitzen. Sie liest wieder. Gerade hatte sie noch gesagt, sie ginge nicht gerne ins Kino. „Ich mag die Wirklichkeit lieber. Aber man muß zwischen den Zeilen lesen.“

Jan Nicolaisen