Die Volksoper ohne Volk

Nie sonst ist der Platz ein Platz, diesen Donnerstag nachmittag darf er es endlich sein. Die Place de la Bastille liegt, befreit vom Verkehrsgewühl, friedlich in der späten Nachmittagssonne. Zwei Militärhubschrauber landen in der Mitte, an den seitlichen Absperrungen drängeln sich schweigend die Schaulustigen. Um 19 Uhr will Staatspräsident Mitterrand in Anwesenheit seiner illustren Gäste den Bau einweihen, den er - großer Mann, große Geste - an diesem historischen Tag dem Volk schenken will: eine Volksoper an der Bastille. Das Volk ist für dieses eine Mal allerdings ausgeschlossen. Es kann sich den Galabend mit Opernstars aus aller Welt als Aufzeichnung im Fernsehen anschauen.

Die Sicherheitsmaßnahmen sind enorm, fast zwei Stunden vor Beginn müssen sich alle Gäste einfinden. 2.700 Personen finden in dem Riesensaal Platz. Das Who's who-Spiel beginnt, ein italienisches Ehepaar macht mit Opernglas und einer Portion dreister Neugierde auf perlenbehangene Dekolletes Jagd.

Die Sitze füllen sich allmählich. Die Farben des Saales sind schwarz-braun-grau gedämpft und unterstreichen seine unterkühlte High-tech-Eleganz. Um allen Plätzen gute Sicht zu gewährleisten, steigt er steil an, die beiden oberen Ränge schieben sich über das Parkett in Balkonen vor. Die neue Oper ist ein modernes und ein demokratisches Haus, so heißt es. Für alle soll sie erschwinglich sein, für jeden zugänglich. Der Aufsichtsratsvorsitzende der Pariser Opernhäuser, Pierre Berge, hat angekündigt, daß sich die Preise zwischen 35 und 350 Francs (10 und 100 Mark) liegen sollen, das ist etwa ein Viertel weniger als alten Palais Garnier. Der eigentliche Spielbetrieb wird erst im Januar 1990 aufgenommen, denn noch ist der Bau nicht vollendet.

Für die künstlerische Gestaltung des Galabends ist der Regisseur Bob Wilson verpflichtet worden, das Pariser Opernorchester wird von Georges Pretre dirigiert. Alles beginnt mit der Marseillaise. Wilson illuminiert den weiten Bühnenhintergrund, der sich tiefer und tiefer öffnet, indem ein Vorhang nach dem anderen hochgeht. Es sind hauchdünne und mit abstrakten Zeichnungen bemalte Tücher, die lichtdurchlässig sind und im Lauf des Abends immer wieder zum fließenden Übergang der einzelnen Liederpartien benutzt werden. Und dann spazieren sie einer nach der anderen über die Bühne: Placido Domingo, Teresa Berganza, Alfredo Kraus, June Anderson, Barbara Hendricks treten vor und singen Arien, die längst Ohrwürmer sind - aus Bizets „Carmen“, Meyerbeers „Dinorah“, Gounods „Faust“. Die Stars in ihren extra von Pariser Modeschöpfern angefertigten Kleidern baden im Licht, das italienische Ehepaar ist hingerissen und keineswegs bereit, sein Opernglas einmal auszuleihen.

Der Arienreigen endet wie er angefangen hat, mit „La Marseillaise“. Diesmal nicht nur vom Orchester intoniert, sondern von Solisten und Chor begleitet. Der Saal erhebt sich, klatscht den Künstlern zu und dreht sich immer kräftiger applaudierend dorthin um, wo Staatschef Mitterrand Platz genommen hat. Die Ovationen gelten ihm. Er ist jetzt der Star. Die Künstler auf der Bühne können abtreten.

Das Publikum applaudiert nun auch sich selbst dafür, daß es dabei sein durfte. Längst sind die Staatsgäste entschwunden, aus Sicherheitsgründen darf der Saal nicht sofort geräumt werden. Draußen herrscht noch immer Tageslicht, die Menschenmenge hinter den Absperrungen ist größer geworden. Über dem Platz schwebt inzwischen ein Zeppelin, der nicht etwa für die Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution Paris Reklame macht, sondern vollgestopft mit Elektronik die Sicherheit der Sicherheitskräfte überwacht. Nur sein unheimliches Brummen ist zu vernehmen, da explodieren in die Stille die ersten Feuerwerkskörper des Abends.

Sabine Seifert