Streiks in Sibirien ausgeweitet

■ Sibirische Bergarbeiter stellen politische Forderungen / UdSSR-Medien berichten über Streiks

Moskau (afp/dpa/taz) - Die 12.000 Bergarbeiter, die am Montag im westsibirischen Kussbass-Becken in den Ausstand getreten waren, sind auch nach den Verhandlungen mit dem aus Moskau angereisten Kohleminister Schtschadow nicht wieder an ihre Arbeit zurückgekehrt. Statt dessen weitete sich die Streikwelle auf acht weitere Städte des größten Kohleabbaugebietes der Welt im Osten von Nowosibirsk aus. Auch Arbeiter anderer Industriezweige sollen sich dem Streik angeschlossen haben.

Der Konflikt hatte sich zunächst an den katastrophalen Lebens- und Arbeitsbedingungen entzündet. Nachdem den Streikenden gestern in 36 ihrer 42 Forderungen Zugeständnisse gemacht worden sind, nimmt der Konflikt eine eindeutig politische Dimension an. Die Belegschaften wandten sich in einem Schreiben an den Kreml, in dem sie eine sofortige öffentliche Diskussion über eine neue Verfassung noch vor dem Jahrestag der Oktoberrevolution am 7. November fordern.

Die sowjetische Führung hatte eine Verfassungsreform bereits angekündigt. Der Kongreß der Volksdeputierten sollte sich damit im Herbst beschäftigen. Außerdem verlangen die Streikenden, hochrangige Regierungsvertreter sollten Verhandlungen mit ihnen aufnehmen. Außer einer grundsätzlichen Verbesserung ihrer materiellen Lage wollen sie auch eine Le Fortsetzung auf Seite 2

bensmittelversorgung „auf der Basis von ernährungswissenschaftlichen Normen“ sichergestellt sehen. Auf Versammlungen skandierten sie Losungen, die die Absetzung der örtlichen Parteiführung einklagten. Zu ihren Forderungen gehört auch die Beschneidung der materiellen Privilegien der lokalen Parteifürsten. Die Bergleute versuchen unterdessen, ein regionales Streikkomitee zu bilden. Für die UdSSR besteht die Gefahr, daß bei Bildung von weiteren Streikkomitees und der Ausweitung der Streiks ein Großteil der Kohleproduktion lehmgelegt werden könnte.

In einigen Städten hatten sich die Arbeiter vor den Stadtsowjets versammelt, berichtet die Gewerkschaftszeitung 'Trud‘, und verlangte die Einführung der eigenständigen Rechnungsführung. Das würde bedeuten, daß die Unternehmen direkten Zugriff auf die von ihnen erwirt

schafteten Gewinne hätten. In einigen Betrieben wird dieses Prinzip schon seit 1988 praktiziert. Wie das Zentralorgan des kommunistischen Jugendverbandes, 'Komsomolzkaja Prawda‘, berichtete, seien in den letzten neun Jahren über 10.000 Bergarbeiter bei Arbeitsunfällen ums Leben gekommen. Insgesamt starben in den Zechen mehr Menschen als sowjetische Soldaten im Afghanistan-Krieg. Im Gegensatz zur großen Streikwelle zwischen 1961 und 63 in Nowotscherkassk im Donezgebiet, dem anderen bedeutenden Kohlerevier der UdSSR, berichteten die Medien ausführlich über die Vorgänge und ließen auch Streikende zu Wort kommen.

Die Streiks der sechziger Jahre beruhten auf ähnlichen sozialen Mißständen. Die Lebensmittelknappheit führte damals zu panischen Hamsterkäufen und offener Rebellion, zu deren Niederschlagung spezielle Militäreinheiten in das Krisengebiet geschickt worden waren. Bei Zusammenstößen starben damals 80 Menschen. Andere erhielten drakonische Strafen. Im Zuge der Vergangenheitsbewältigung sind diese Ereignisse gerade vor kurzem zum ersten Mal wieder öffentlich diskutiert worden.