Soldaten in Kriegsstimmung

Eldar Schengelaja ist Deputierter des Obersten Sowjets und Mitglied der Kommission zur Untersuchung der Ereignisse des 9. April in Tbilissi in Georgien  ■ I N T E R V I E W

Militärische Einheiten zerschlugen am 9. April 1989 in Tbilissi (Tiflis) eine friedliche Demonstration georgischer Nationalisten. Die Truppen gingen bei ihrem Einsatz, der viele Tote und Verwundete forderte, mit Schützenpanzern, Wasserwerfern, Schlagstöcken und Kampfgas gegen die Demonstranten vor. Zum ersten Mal in der Geschichte der Sowjetunion wurde danach eine parlamentarische Untersuchungskommission zur Klärung der Vorfälle eingesetzt. Die Veröffentlichung der Untersuchungsergebnisse ist Ende Juli zu erwarten. Im folgenden Gespräch war der Regisseur und Vorsitzende des georgischen „Verbands der Filmschaffenden“, Eldar Schengelaja, gehalten, in seinen Aussagen diesen Ergebnissen nicht vorzugreifen.

taz: Wie ist die Kommission zur Untersuchung der Ereignisse des 9.April in Tbilissi entstanden, und was kann sie bewirken?

Eldar Schengelaja: Die Kommission handelt im Namen des Obersten Sowjets der UdSSR, wurde vom Kongreß der Volksdeputierten gegründet und ist deshalb mit sehr weitgehenden Vollmachten ausgestattet. Da der Kongreß der Volksdeputierten nach der neuen Verfassung die höchste Instanz ist, sind alle Ämter und Regierungsebenen dieser Kommission rechenschaftspflichtig. Man kann natürlich daran zweifeln, ob eine solche Kommission in der Sowjetunion überhaupt arbeitsfähig ist, aber bisher hatten wir zu allem, was uns interessierte, Zugang, auch zu den geheimen Dokumenten, die in diesem Staat so häufig sind. Es stimmt allerdings, daß einige Organisationen sich nicht sofort an unsere Arbeit gewöhnen konnten, aber sie wurden dann vom Obersten Sowjet angerufen, und man machte ihnen klar, daß wir das Recht haben, den Dingen auf den Grund zu gehen. Deshalb ist uns vieles über die Ereignisse des 9.April, darunter auch die Rolle einzelner Leute und ganzer Organisationen, schon viel klarer geworden. Man muß dabei bedenken, daß diese Ereignisse über die Republikebene hinaus für die gesamte Sowjetunion von Bedeutung sind - allein schon durch den Umstand, daß die Armee daran Anteil hatte, die ja bekanntlich der Zentralregierung unterstellt ist. Nachdem wir hier also zwei Wochen in Tbilissi tätig waren, nehmen wir jetzt den zweiten Teil unserer Arbeit in Angriff, der die Moskauer Ebene betrifft - und deren Beitrag zu allem.

Können Sie ein paar Worte zur Zusammensetzung der Kommission sagen?

Der Vorsitzende ist der Jurist Dr. Anatolij Alexandrowitsch Sobtschak. Er wurde durch einen sehr beherzten Auftritt auf dem Kongreß der Volksdeputierten fast so prominent wie ein Filmstar. Andere Mitglieder sind der Schriftsteller Boris Wassiljew, der als einer der ersten auf Bitten des Verbands der Filmschaffenden nach Tbilissi gekommen war, zu einer Zeit, als die Situation hier sehr gespannt war, als Ausgangssperre herrschte und die Opfer noch nicht unter der Erde lagen. Außerdem nimmt der Biologe und Akademiemitglied Gasenko teil, ein Mensch, in den ich mich verliebt habe, eines der letzten „Mammute“ der russischen Intelligenz, der mehrere Sprachen fließend spricht. In Moskau wird auch das Akademiemitglied Dmitrij Sergejewitsch Lichatschow dabeisein.

In einer Sonderausgabe der 'Moscow News‘ war kürzlich ein Interview mit Verteidigungsminister Jasow zu lesen, in dem er meinte, daß Ihre Kommission unter Umständen nicht das letzte Wort hätte.

Er bringt da wahrscheinlich ein paar Sachen durcheinander. Tatsächlich ist es ja so, daß parallel zu unseren Untersuchungen die Militärstaatsanwaltschaft aktiv ist. Sie ist mit der Aufklärung der reinen Verbrechen betraut. So hat es einen Befehl gegeben, der den Gebrauch von Schußwaffen verbot, zu dem es dann doch fünfmal kam, obwohl nur die Offiziere Schußwaffen in der Hand hatten. Da sind Giftgase aufgetaucht, die in der Kampfmitteltabelle der Truppen des Innenministeriums nicht vorgesehen sind. Unsere Aufgabe besteht vielmehr darin, eine politische Bewertung zu finden: also nicht, wer persönlich diesen oder jenen Jungen erschossen hat, sondern warum eine Armee bei uns auf diese Weise gegen friedliche Bürger vorgeht, warum sie dies alles außerhalb des Gesetzes gemacht hat. Das ist etwas, was die Militärstaatsanwaltschaft niemals feststellen wird, das ist unsere Angelegenheit. Deshalb irrt sich der Genosse Jasow hier gewaltig.

Welche Aufgabe hatten die Truppen des Innenministeriums?

Das sind Sondereinheiten, wie sie zum Beispiel zur Terrorismusbekämpfung überall in der Welt existieren. Unser Staat begibt sich gerade eben erst auf den Weg der Zivilisation, wie beispielsweise auf dem Gebiet der Rechtssicherheit. Was nun diese Einheiten betrifft, so hat uns unsere Erfahrung gelehrt, das sie bisher noch nicht zivilisiert sind. Anstatt Tränengas anzuwenden, das eindeutig der Zerstreuung von Menschenaufläufen dient, werfen sie mit einem lebensgefährlichen Zeug um sich, und ihre Gummiknüppel sind, verglichen mit westlichen Modellen, wahre Totschläger. Den Bestimmungen zufolge ist es verboten, Frauen und Kinder damit zu schlagen und überhaupt auf den Kopf von Menschen zu zielen. Aber all das ist geschehen. Andererseits wiegen ihre kugelsicheren Westen 14 Kilogramm, und ihre Schutzschilde sind zwar klobig, zersplittern aber beim kleinsten Aufprall. Das alles wirkt sich natürlich auch auf die Träger aus. In den Gesprächen mit den Soldaten haben wir feststellen können, daß sie sich an jenem Abend in echter Kriegsstimmung befanden.

Stimmt es, daß zu dieser Stimmung Drogen beigetragen haben?

Das wissen wir nicht. Das ist sehr schwer festzustellen.

Wie hat Ihr persönliches Engagement in dieser Angelegenheit begonnen?

Ich war während der Ereignisse in der Bundesrepublik und kam erst am 10.April zurück, sah dann die Toten und das Videomaterial. Und ich befürchtete, daß das gleiche geschehen könnte wie 1956, als hier eine weitaus größere Anzahl von Demonstranten erschossen worden war, das Ganze aber verschwiegen und zugedeckt wurde. Die örtliche und zentrale Presse und das Fernsehen begannen schon, völlig verlogene und falsche Informationen zu verbreiten. Da wegen der Ausgangssperre niemand hier herreisen durfte, sind wir auf die Idee gekommen, die fünf Delegierten, die der gesamtsowjetische Filmverband für den Kongreß der Volksdeputierten gewählt hatte, dringend hier herzubitten, und als Regierungsmitglieder konnte sie niemand aufhalten. Dann konnten wir hier im Verband der Filmschaffenden eine große Pressekonferenz veranstalten, zu der auch ausländische Journalisten zugelassen waren, und wir bekamen die Erlaubnis, im Fernsehen zu sprechen: das Komplott war zerschlagen.

Wie kam es, daß gerade Ihr „Verband der Filmschaffenden“ zum Zentrum der nationalen und demokratischen Bewegung in Georgien wurde?

Diese Tragödie, die sich im April ereignet hat, war natürlich nicht zufällig, sondern ein gesetzmäßiges Ereignis. Es war abzusehen daß sich der Antagonismus zwischen den Jugendlichen und Informellen auf der einen Seite und ihren Gegnern so zugespitzt hatte, daß ein solches Ende in den Bereich des Möglichen rückte. Keiner wollte nachgeben, vor allem aber nicht jene Regierungs- und Parteikreise, die diese Aktion dann in Kauf genommen haben. Sie griffen zu kriegerischen Mitteln, weil sie mit ihrer Politik am Ende waren. In dieser Situation hatte sich nun eine mittlere Kraft herausgebildet - die Volksfront - die die Mehrheit im Lande repräsentierte und die auch an den neuen demokratischen Prozessen teilhaben wollte. Die Partei allerdings war dagegen und gab diesen Leuten nicht die Möglichkeit, sich zu organisieren. Ab einem bestimmten Zeitpunkt war mir dann klar, daß das nötig war, daß diese Gründung dem allgemeinen Willen des Volkes entsprach und daß die Menschen dringend eines Forums bedurften, wo sie sich artikulieren konnten. Bis dahin hatten wir uns in allen Fragen immer mit den Parteioberen beraten, aber nun fiel uns ein, daß wir als gesellschaftliche Organisation der Konstitution zufolge niemandem untergeordnet, sondern Herren unseres eigenen Geschicks sind.

Interview: Barbara Kerneck