„Das darf keine Form der Auseinandersetzung sein...“

■ Ein taz-Gespräch, vier zerstochene Reifen und jede Menge Diskussionsbedarf über die Auseinandersetzungsformen im Kreuzberger Kiez / Anonyme Gewalt soll offensichtlich die Diskussion über Verhaltensweisen in linken Zusammenhängen verhindern

Als Gertrud am Samsatg morgen ihren Wagen mit vier zerstochenen Reifen vorfand, glaubte sie zuerst an einen wenn auch teuren - Zufall. Kurz darauf entdeckten Freunde beim Brötchenholen die zertrümmerte Fensterscheibe im Büro des Genossenschaftsprojekts Luisenstadt und orderten den Glaser. Samstag nacht schließlich ging mit viel Krach die Klingelanlage und der Briefkasten des Hauses zu Bruch, in dem Gertrud wohnt.

Vier zerstochene Autoreifen, eine zertrümmerte Fensterscheibe und ein kaputter Briefkasten sind als Schadensmeldung eines Wochenendes an sich nicht bedeutsam. Doch in diesem Fall richteten sich die Aktionen offensichtlich gegen Getrud, Kiezbewohnerin, nun Mitarbeiterin des Genossenschaftsprojekts Luisenstadt.

In einem Artikel der taz hatte sich die ehemalige Hausbesetzerin kritisch über das militante Verhalten autonomer Gruppen während der Demonstration gegen die „Republikaner“ und die Randale am 1.Mai geäußert. Bereits ihre Kritik an den Ausschreitungen am 1.Mai, die sie auch öffentlich äußerte, hatten Drohungen, aber auch sexistische Anmache zur Folge.

Die nächtlichen Aktionen des vergangenen Wochenendes schätzen Gertrud und die BewohnerInnen des Hauses nicht als spontane Unmutsäußerungen ein. So sei auf Briefkasten und Haustür mit Schlagwerkzeugen eingehauen worden, was darauf hindeute, daß „die nicht einfach mal so vorbeigekommen sind“.

Umgangsformen dieser Art sind kein Einzelfall im Kiez auch wenn die Hintergründe der Konflikte oft unterschiedlich sind. Fotografen werden bei ihrer Arbeit mit Drohungen konfrontiert; Besonders Frauen, die oft selbst in Kiezprojekten arbeiten, beklagen sich über den Sexismus „autonomer Machos“, die sich auf diese Weise in der Szene gegen Frauen durchsetzten.

Da bestehe ein riesiger Diskussionsbedarf, erklärt eine Frau. Sie deutet eigene schlechte Erfahrungen an, will ihren Namen aber nicht nennen.

Projekte, die nach dem 1.Mai ihren Unmut über die Randale kundtaten, sahen sich ebenfalls im kreuzfeuer autonomer Kritik - wie zum Beispiel der Verein SO 36. Im Unterschied zu heute waren Aktionen wie die Demolierung des „Stattbau„ -Büros durch Autonome vor zwei Jahren nie Gegenstand einer öffentlichen Auseinandersetzung im Kiez.

Das soll sich nun offensichtlich ändern - die Umgangsformen sind nicht nur Thema mehrerer Hausversammlungen, sondern sollen auch Gegenstand eines Kiezpalavers werden.

Letztlich verdeutlichen die zerstochenen Reifen und kaputten Scheiben des Genossenschaftsprojekts Luisenstadt einmal mehr den Konflikt zwischen mittlerweile etablierten Projekten und Autonomen im SO 36, aber auch die Sprachlosigkeit zwischen beiden Seiten. Auf die Frage, wie mit solchen Aktionen gegen Einzelne umzugehen ist, herrscht noch Ratlosigkeit. Sie wolle sich nicht einschüchtern lassen, erklärt Gertrud, hält andererseits jedoch nichts von Drohgebärden gegen Autonome.

„Diese blöde Spirale darf nicht weitergedreht werden, aber das darf jedenfalls keine Form der Auseinandersetzung sein“, meint Gertrud dazu. „Die Utopie, daß hier im Kiez jeder nach seiner Fa?on selig werden kann, hört spätestens an dem Punkt auf.“

anb