Nationalbewußtsein vor langer Zeit weggespült

■ Ada Marschania, 27jährige Juristin, befaßt sich in der georgischen Volksfront mit der abchasischen Frage

Georgier und Abchasen sind zwei Urvölker der im Kaukasus beheimateten iberischen Sprachfamilie, die nirgends auf der Welt Verwandte hat. Ihre Bräuche und Moralvorstellungen sind fast identisch, auch wenn sich die Mehrheit der Abchasen im 16.Jh. - im Unterschied zu den christlichen Georgiern - dem Islam zuwandte. Bis zur zweiten Hälfte des 19.Jh. gab es zwischen den beiden Völkern keine bewaffneten Zusammenstöße. Vertreter der georgischen Volksfront interpretieren die gegenwärtigen Spannungen als Folge der russischen imperialen Politik seit jener Zeit.

taz: Was sind die Ursachen für den abchasisch-georgischen Konflikt?

Ada Marschania: Tatsächlich hatte sich in der Revolutionszeit in Abchasien eine eigene Kommune herausgebildet, der von der menschewistischen Regierung in Tbilissi der Garaus gemacht wurde. Und wenn heute hier über der Stadt die Flagge der damaligen menschewistischen Republik als Zeichen der von unserer Volksfront angestrebten staatlichen Souveränität Georgiens weht, dann wird dieses Wahrzeichen dort ganz anders gewertet. Ich glaube, daß sich manche Abchasen auch von unseren Demokratisierungs- und Perestroika-Forderungen abgestoßen fühlen, weil die Provinz einfach noch nicht so weit ist. Im Frühjahr wurde in Abchasien die Forderung nach Wiederherstellung der „Leninschen Prinzipien“ laut, der „Wiederherstellung des Status einer Unionsrepublik“ außerhalb Georgiens, den es kurze Zeit einmal gab.

Sind die Abchasen in ihren Rechten nicht benachteiligt?

Es gab Beleidigungen und ein ungerechtes Herangehen seitens einzelner Persönlichkeiten der georgischen Regierung. Aber wer sind diese Regierungsvertreter - sie sind doch nichts anderes als Vertreter des russischen Imperiums. Leider mangelt es ihnen an politischem Selbstbewußtsein. Auch das nationale Selbstbewußtsein der Abchasen wurde vor langer Zeit weggespült. Der Vorschlag, sich aus den jeweiligen Unionsrepubliken auszugliedern und in den gesamtsowjetischen Verband einzutreten, ist, wie ich verstehe, von Moskau aus den meisten autonomen Republiken im „Kongreß der Volksdeputierten“ nahegelegt worden.

Haben Abchasen gleiche Bildungschancen?

Berija und Stalin haben durch ihr Wüten die georgische und abchasische Intelligenz gleichermaßen vernichtet. Aber damals hat sich bei den Abchasen der Eindruck herausgebildet, dies alles sei „extra“ geschehen. Es gibt nun einmal nur um die 100.000 Abchasen, aber etwa drei Millionen Georgier. Je kleiner ein Volk - desto größer ist die Empfindlichkeit für Repressionen. Eine strukturelle Benachteiligung des abchasischen Volkes sehe ich nicht, obgleich ich zugeben muß, daß auf den Hochschulen der überwiegende Anteil der unterrichtenden Professoren georgischer Herkunft ist - wir Abchasen haben da eben eine sehr schmale Rekrutierungsbasis. Daß aber im Frühjahr die Universität geteilt wurde, halte ich für einen Schritt zur Konfrontation und nicht zur Konsolidierung. Soll es ruhig nach Sprachen getrennte Seminare geben, aber wir jungen Leute aus beiden Völkern sollten doch Gelegenheit haben, uns weiterhin auf den Korridoren kennenzulernen und dann einander zu heiraten. Wenn mich aber ein Georgier plötzlich beleidigen würde, käme ich nie darauf, ihm ins Gesicht zu schleudern, daß ich plötzlich sein Land verlasse.

Interview: Barbara Kerneck