Die Null-Linie

■ oder warum wir keinen (neuen) Karajan-Nachruf schreiben

Darauf waren sie vorbereitet: Bereits wenige Minuten nach der dreizeiligen Agentur-Meldung: „Karajan tot“ spuckten die Ticker ihre Nachrufe aus, insgesamt mehrere Meter. Im Angebot fanden sich: mehr und auch weniger beschönigende Lebensläufe, eine Liste seiner Tätigkeiten, eine Liste seiner Auszeichnungen, ein Vergleich mit den großen Dirigenten dieses Jahrhunderts und Zitate aus dem Munde des Meisters. „Ich habe ein herrliches Leben gehabt. Ich habe alles erlebt. Ich tausche mit niemand. Ganz sicher nicht.“ Zu seinem Grabstein: „Auf meinem Grabstein sollte stehen: nach langem schweren Leiden...“. Und zur Musik: „Sie triumphiert über den Tod.“ Sein Kommentar zu den Berliner Philharmonikern: „Dieses Orchester wollte ich mehr als alles andere auf der Welt. Mein Mund wässerte danach, die Stelle zu bekommen“. Eine ähnliche Äußerung Karajans, im Zusammenhang mit seiner Berufung zum Generalmusikdirektor in Aachen, erwähnt keine Agentur. In seiner Biographie äußert er sich zu der Frage, warum er damals, 1934, in die NSDAP eingetreten sei, um den Job in Aachen zu kriegen: „Nach den hoffnungslosen Monaten, in denen ich in Berlin auf ein Engagement wartete, nach meinen großen Anstrengungen, dieses in Aachen zu bekommen, und angesichts der erhofften Position hätte ich wahrscheinlich noch ganz andere Bedingungen erfüllt, um sie auch wirklich zu bekommen. Man sagt manchmal leichthin, dafür wäre ich auch über Leichen gegangen. Aber dieser Satz sagt ziemlich genau, wozu ich damals als junger, hungriger Kapellmeister fähig gewesen wäre.“ Bis an sein Lebensende verschwieg er, daß er bereits vorher Parteimitglied war - was inzwischen hinlänglich bekannt sein dürfte.

'Bild‘ am Montag: „Er lag im Bett - die Pupillen geweitet, Null-Linie auf dem EKG“. Die Schlagzeile „Der König ist tot“ spielt an auf das Telegramm vom Jahr 1954 („Der König ist tot, es lebe der König“), mit der ihm Furtwänglers Ableben und damit die Aussicht auf seine Berufung als Chef der Berliner Philharmoniker mitgeteilt wurde. Die 'Frankfurter Rundschau‘ hebt aufs Big Business ab, die 'FAZ‘ immerhin verliert ein paar Worte über seine beruflichen Fähigkeiten: „...von klassizistischer Elastizität zu Hochglanzbravour, sublimen Weichzeichnereffekten bis hin zu einem härter, ja mitunter schroff akzentuierten Spätsti.“

Die ausländischen Zeitungen, die ihre zum Teil mehrseitigen Nachrufe wohl fertig auf Computer-Halde liegen hatten (wie sonst wäre nach der Meldung am Sonntag um 16.30 Uhr eine Veröffentlichung schon am Montag möglich gewesen?), heben vor allem auf seine lange Krankheit ab und daß er noch am Tag seines Todes zwei Proben absolvieren wollte. Von seinem Perfektionsdrang ist die Rede, vom „Mythos auf dem Podium“ ('Corriere de la sera‘), der Jahrhundertfigur, dem „Wunder Karajan“ (titelt der 'Guardian‘ auf deutsch). Die Briten beschäftigen sich vor allem mit dem Geld, das Karajan gescheffelt hat (115 Millionen Schallplatten, mehr als 900 Einspielungen), die Franzosen interessieren sich für seine Nazi-Vergangenheit, aber finden entschuldigende Worte. Viele Zeitungen heben bedauernd hervor, daß er nach dem Krieg durchaus eine zeitlang Schwierigkeiten gehabt habe. Der pikante Zusammenhang, daß Karajans Liebe zum Tonträger aus der Zeit stammt, als er mangels Entnazifizierung nicht öffentlich auftreten durfte und daher, zunächst notgedrungen, mit dem Studio vorlieb nahm, wird nirgendwo erwähnt. Der italienische 'Corriere‘ fährt lieber gleich im zweiten Satz Heidegger auf, um das Problem, wie Kunst, moderne Technik, Privatleben und das Geschäftemachen unter einen Hut zu bringen seien, elegant zu umschiffen. Die schönsten Superlative: „Generalmusikdirektor von Europa“ ('Basler Zeitung‘), „Gottvater der Musik“ ('az‘, München), und „der letzte der germanischen Titanen hat, besiegt von Müdigkeit und Krankheit, den Arm gesenkt“ ('Quotidien de Paris‘). Und die 'Bildzeitung‘ vom Dienstag weiß gar über Karajans Leben nach dem Tod Bescheid: „Ich werde ein Adler oder ein Falke sein.“

Die Liste der Kondolierenden ist lang: Bundeskanzler Kohl spricht von einer der profiliertesten und eigenwilligsten Persönlichkeiten, der österreichische Bundespräsident Waldheim von einem unersetzlichen Verlust, die Salzburger Festspiele haben eine Trauerfeier angekündigt. Berlins Regierender Walter Momper hat das „Bedürfnis, ihn noch einmal musizieren zu hören“ (kein Problem: er soll sich ein Video kaufen), Kultursenatorin Anke Martiny sieht angesichts seines Todes keinen Anlaß, die Diskussion über die Umstände von Karajans Rücktritt im April fortzusetzen, die Berliner Philharmoniker sind äußerst bestürzt, wie überhaupt sämtliche Kommentare aus Berlin die Streitereien und Skandale im Zirkus Karajani nachträglich doch nicht so schlimm finden.

Karajans Dirigenten-Kollegen äußerten sich nicht weniger prompt: Erich Leinsdorf glaubt an einen psychologisch bedingten Tod, Ricardo Muti hält seine Methode zu dirigieren für revolutionär. Bernstein legte beim Konzert in der neuen Pariser Bastille-Oper eine Gedenkminute ein, Justus Frantz liefert 'Bild‘ eine Karajan-Serie, die Sängerin Jessye Norman meinte, Karajan habe für die Sänger stets einen „musikalischen Zauberteppich“ entrollt.

Was genau an Karajans Dirigieren so revolutionär war, was ihn denn recht eigentlich zum Genie macht, was ihn von Kollegen wie Böhm, Bernstein oder Jochum unterscheidet außer seiner bisher tatsächlich nie erreichten Kunst, ein E-Musik -Imperium zu errichten und zu leiten, darüber schweigt die Musik- und Kulturwelt sich aus. Was daran liegen mag, daß zum Musiker Karajan längst alles geschrieben ist, was sich sagen läßt. Sicher hat er wie kein anderer die Geschicke der Ernsten Musik im deutschsprachigen Raum gelenkt, bloß in die falsche Richtung: Die Reduzierung seines Repertoires auf die Bestseller Beethoven, Bruckner, Tschaikowsky im Lauf der Jahrzehnte ist symptomatisch für die jüngere Entwicklung im Konzertbetrieb.

Ein Verlust zumindest ist tatsächlich zu beklagen: Der Name Karajan funktionierte seit Anfang der 50er Jahre als Chiffre für die Verschränkung von Kunst und Kommerz. Seit Sonntag nun trägt die Macht in Sachen Musik keinen Namen mehr.

chp