Sozialhilfe: Vom Warenkorb zum Statistikmodell

Noch ist unklar, wann das neue Bemessungsschmema in Kraft tritt / Absichtserklärungen gegen die „strukturelle Unterausstattung“ der Sozialhilfe-EmpfängerInnen / Regelsätze stiegen nur halb so schnell wie Reallöhne und Renten / Kommunale Spitzenverbände und Finanzminister melden Bedenken an  ■  Von Gerhard Pfannendörfer

Die Arbeits- und Sozialminister der Länder haben sich auf ihrer letzten Konferenz Ende Juni auf die Einführung eines neuen „Bedarfsbemessungsschemas“ in der Sozialhilfe geeinigt. Nicht mehr ein Warenkorb soll Grundlage zur Berechnung der Regelsätze für die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt sein, sondern ein sogenanntes Statistikmodell. Künftige Grundlage wird nun die Einkommensentwicklung einer Bezugsgruppe aus Geringverdienenden. Der konkrete Warenkorb mit seinen festgelegten Waren und Dienstleistungen soll mit dieser Vereinbarung als Bestimmungsgröße zur Festsetzung der Sozialhilferegelsätze abgelöst werden.

In diesem Jahr werden die Regelsätze noch in Höhe der Preissteigerungsrate fortgeschrieben. Die von fast allen Beteiligten anerkannte „strukturelle Unterausstattung“ bundesdeutscher SozialhilfeempfängerInnen wird damit vorerst nicht beseitigt. Der wirkliche Nachholbedarf - orientiert am gestiegenen Lebensstandard - beträgt dagegen nach Ansicht des deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes über zwölf Prozent, um rund zehn bis zwölf Prozent soll denn auch die Sozialhilfe steigen, wenn das neue Schema in Kraft tritt.

Die Hilfe zum Lebensunterhalt setzt sich im wesentlichen zusammen aus dem Regelsatz, einem eventuellen Mehrbedarf für bestimmte Personengruppe, beispielsweise für alte Menschen und werdende Mütter, sowie den Unterkunfts- und Heizungskosten. Die Höhe der Regelsätze - und insbesondere des sogenannten Eckregelsatzes für einen Alleinstehenden und den Haushaltsvorstand, von dem sich dann die Regelsätze für Kinder und Haushaltsangehörige prozentual ableiten - nimmt in der politischen und fachlichen Diskussion einen wichtigen Platz ein. In der komplizierten Materie des Sozialhilferechts stellt der Eckregelsatz eine konkrete, in der breiten Öffentlichkeit nachvollziehbare Größe dar.

Neben ihrer unmittelbaren fiskalischen Bedeutung - eine Mark Regelsatzerhöhung verursachte auf der Basis von 1986 einen jährlichen Mehraufwand von über 17 Millionen Mark haben die Sozialhilferegelsätze auch direkte Konsequenzen für andere Sozialhilfeleistungen, beispielsweise bei der Heranziehung Unterhaltspflichtiger. Die Höhe der Regelsätze strahlt auch ab auf andere gesetzliche Vorschriften. Vor allem die kommunalen Spitzenverbände haben sich lange gegen jede Verbesserung in der Sozialhilfe gewehrt. Denn das Bundessozialhilfegesetz ist zwar - wie es der Name besagt ein Bundesgesetz, doch beteiligt sich der Bund kaum an seiner Finanzierung.

Die örtlichen und überörtlichen Träger der Sozialhilfe müssen die Maßnahmen, die sie im Einzelfalle bewilligen, im wesentlichen auch selbst finanzieren und klagen seit Jahren über die teilweise explosionsartige Zunahme der Kosten meist gerade in Regionen, in denen die Arbeitslosigkeit hoch und die finanzielle Situation der Gemeinden besonders schlecht ist. Das ist ein Grund für die oft sehr restriktive Handhabung von behördlichen Ermessensentscheidungen. Rund 80 Prozent der Sozialhilfekosten werden von den Städten und Landkreisen getragen; für die restlichen 20 Prozent kommen die Länder über die verschiedenen Finanzausgleiche zwischen Ländern und Kommunen auf. Kritiker weisen allerdings darauf hin, daß die Proteste der Gemeinden und Kreise ein bißchen spät gekommen seien. Schließlich sei der Leistungsabbau bei der Arbeitslosenversicherung beschlossen worden, ohne daß die kommunalen Spitzenverbände sonderlich stark protestiert hätten.

Trotz der umfassenden Aufgaben der Sozialhilfe ist ihr finanzieller Umfang im Vergleich zu anderen Sozialleistungen eher gering; ihr Anteil am gesamten Sozialbudget liegt unter vier Prozent. So wurden im Jahre 1986 nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes von der öffentlichen Hand 23,1 Milliarden Mark für Sozialhilfe ausgegeben. Im Vergleich dazu hatte die gesetzliche Rentenversicherung ein Volumen von 178,5 Milliarden Mark und die gesetzliche Krankenversicherung 119,9 Milliarden Mark.

Die strukturellen Ursachen wachsender Sozialhilfeausgaben begründen sich neben den Leistungskürzungen in den der Sozialhilfe vorgelagerten Sicherungssystemen in der Zunahme stationärer Angebote (Alten- und Pflegeheime, Einrichtungen für Suchtgefährdete, Werktätten für Behinderte etc.), dem gesellschaftlichen Wandel in der Bundesrepublik (z.B. höhere Scheidungsraten) und die politisch gewollten Leistungsausweitungen Ende der sechziger Jahre, Anfang der siebziger Jahre, die insbesondere dem Personenkreis behinderter Menschen zugute kamen.

Die aktuellen Finnazprobleme der Sozialhilfe entstehen vor allem durch die langanhaltende Arbeitslosigkeit, durch die Zunahme der Zahl pflegebedürftiger alter Menschen und durch Kürzungen bei anderen Sozialleistungen, vor allem beim Arbeitsförderungsgesetz.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung bezifferte im Dezember letzten Jahres die direkten Folgekosten der Arbeitslosigkeit für die Sozialhilfe auf drei Milliarden Mark.

Die Eckregelsatz beträgt derzeit im rechnerischen Bundesdurchschnitt 412 Mark im Monat. Die Höhe des Eckeregelsatzes wird von den zuständigen Landesbehörden, das sind in der Regel die Sozialministerien, festgelegt. Die Bestimmung der Höhe erfolgte bislang aufgrund eines sogenannten Warenkorbs, in dem alle Waren und Dienstleistungen zusammengefaßt sind, die dem „Regelbedarf“ eines Sozialhilfeempfängers entsprechen sollen.

Der Warenkorb wurde erstmals 1955 von einem Arbeitskreis des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge zusammengestellt und 1962, 1970 und 1985 modifiziert. Viele Studien und Stellungnahmen haben sich mit Form und Inhalt dieses „Bedarfsmengenschemas“ auseinandergesetzt. Die politische Brisanz des Themas Warenkorb ergibt sich aus seiner Sinnhaftigkeit. In der Auflistung seiner konkreten Waren („Puddingpulver zum Kochen, Vanillegeschmack, in Beuteln für 1/2 l Milch, in Packungen zu 3 oder 5 Stück“) bestimmt er praktisch das staatlich verordnete sozikulturelle Existenzminimum und legt damit eine inoffizielle Armutsgrenze für die Bundesrepublik Deutschland fest, das Warenkorb-Prinzip - nicht seine derzeitige Ausgestaltung - wird deshalb von den Selbsthilfegruppen von Sozialhilfeempfängern wie auch von vielen Wissenschaftlern verteidigt.

Nach Berechnungen der beiden Frankfurter Sozialawissenschaftler Prof.Dr.Berndt Kirchlechner und Albert Hofmann stiegen die Regelsätze im Zeitraum von 1962 bis 1984 real lediglich um 38 Prozent, während sich die Reallöhne um 79 Prozent und die Renten um 98 Prozent erhöhten. Von einer oft behaupteten Besserstellung der Sozialhilfeempfängern oder eines zumindest analogen finanziellen Zuwachses könne somit keine Rede sein.

Die Minister hatten sich ursprünglich auf den 1.Januar 1990 geeinigt, an dem die Reform des Bemessungsausschusses bundeseinheitlich in Kraft treten sollte Vermutlich wird die Einführung noch zum 1.Juli 1990 dauern; der Hauptwiderstand kommt von den Länderfinanzministern, die eine neue Debatte um den kommunalen Finanzausgleich fürchten. Zu Wort gemeldet haben sich jetzt aber auch die kommunalen Spitzenverbände, deren Mitglieder die Hauptlast der Erhöhung tragen müssen. Sie bezweifeln nun die „Wissenschaftlichkeitä des neuen Schemas. Ob die Absichtserklärung, die Sozialhilfe um mehr als zehn Prozent steigen zu lassen, im nächsten Jahr tatsächlich Realität wird, ist derzeit wieder völlig unklar.