Ohne Uniform

■ Zum Tod des Schauspielers Laurence Olivier

Gerhard Midding

Am Tag, an dem sich die Nachricht seines Todes verbreitete, löschten die Theater seines Heimatlandes eine Gedenkminute lang ihre Lichter. Damit erwies Großbritannien nicht allein einem Schauspieler die Reverenz, sondern vor allem einer nationalen Institution. Aber auch nachdem Sir Laurence Olivier eine nationale Institution geworden war, war er vor allem immer noch eines: ein Schauspieler.

Der größte seiner Generation, der größte des Jahrhunderts: Die Liste der willigen Kronzeugen für Superlative dieser Art würde allein diesen Artikel (und etliche mehr) füllen. Sie beginnt nicht erst bei seinen Schauspilerkollegen, bei den Regisseuren und Autoren, hört mit den Kritikern längst noch nicht auf. Den größten Teil, denke ich, wird das Publikum bestreiten. Superlative, zumal, wenn sie sich inflationär häufen, geben immer Anlaß zu Skepsis und reizen zum Widerspruch. Tatsächlich war die Bewunderung für ihn nie uneingeschränkt, auch als Institution war er nicht unangreifbar. Schauspielerkollegen und Kritiker haben es immer wieder verstanden, ihrer Begeisterung für Oliviers Rollenkonzeptionen und seine Detailliebe einen kritischen Unterton beizumischen, der einen eitlen Überschwang, eine Liebe zum Vorzeigegestus aufspürte. Olivier war ein großer Verführer, natürlich, aber die Intimität, die er zu einem, zu seinem, Publikum herzustellen vermochte, war niemals allein eine Angelegenheit des Buhlens um dessen Gunst (Nehmen wir als Indikator die Filmkamera, die auf den Vorzeigegestus viel empfindlicher reagiert als ein Theaterpublikum: Sie hat Olivier nie meiden müssen.). Daß ihm sein Publikum so ergeben war, mag hauptsächlich daran liegen, daß er sich seine Rollen mit solch ungeheurer Autorität zu eigen machte. Es bedurfte nicht einer Karriere von derartiger Dauer und Beständigkeit (sie währte fast bis in sein letztes Lebensjahr, das zweiundachtzigste), um diesem Schauspieler eine Aura des Monolithischen zu geben.

Der größte Schauspieler seiner Generation, der größte Schauspieler des Jahrhunderts: diese Katgorie, ob sie nun erfüllt wurde oder nicht, impliziert natürlich Konkurrenz, Rivalität. Olivier war ein Schauspieler, der sich an anderen (in bezug auf die Shakespeare-Interpretationen vor allem an Sir John Gielgud und Sir Ralph Richardson) hat messen wollen und müssen. Dieser Schauspieler, mit britischen und amerikanischen Auszeichnungen überhäuft wie kein zweiter, war in erster Linie aber einer, an dem andere sich haben messen wollen. Anthony Quinn stand mit ihm 1960 im Beckett auf der Bühne eines Broadwaytheaters und wurde durch die Kraft und Klarheit der Stimme des Briten so sehr in seinem Ehrgeiz herausgefordert, daß er sich bei seinem Versuch, den Theaterraum ebenso mit seiner Stimme zu füllen, den Kehlkopf entzündete.

Irgendwann, wahrscheinlich zu dem Zeitpunkt, als er zu einer nationalen Institution geworden war, wurde Oliviers Souveränität zu einem Faktor, den man längst schon einkalkuliert hatte. Michael Caine, der mit ihm in der Verfilmung des fulminanten Mord- und Versteckspiels Sleuth (Mord mit kleinen Fehlern) auftrat, blieb dementsprechend gelassen: „Mit Olivier als Partner kann ich nicht verlieren. Wenn ich nicht so gut wie er bin, wird das niemanden überraschen. Nur wenn ich mit ihm mithalten könnte, wären die Leute erstaunt!“ Bestenfalls gewann diese Souveränität eine Qualität, die seiner Partner und Partnerinnen in Sicherheit wog und ihre Bereitschaft weckte, ihr Bestes zu geben.

Olivier als Prüfstein, das gilt nicht allein für sein Spiel. In zunehmendem Maße traf es auch auf die Charaktere zu, die er verkörperte: Patriarchen, übermächtige Vaterfiguren, Autoritäten. Von allen britischen Schauspielern war er vielleicht derjenige, der am wenigsten darauf angewiesen war, eine Offiziersuniform zu tragen, um Respekt zu erlangen. Genau wie es dem Schauspieler Olivier gelang, einem Film innerhalb weniger Leinwandminuten seinen Stempel aufzuprägen, gelang es seinen Figuren, mit wenigen Worten und Gesten für die anderen zur Bedrohung zu werden. In Spartacus verleiht er seinem Crassus Momente bezwingender Demagogie, die dem Sklavenführer Kirk Douglas gefährlicher werden als sämtliche römischen Legionen. Die Zahnbehandlungsszene in Marathon Man ist ein Glanzstück des understatement. Die gelangweilte Routine, mit der er seine Operationsgeräte vorbereitet und beiläufig über die Sprache philosophiert (seine Schrift trage immer noch kindliche Züge, gesteht er ein, aber dafür sei er ein fanatischer Ankläger des gesprochnenen Wortes), läßt den Zuschauer den Terror erahnen, den er als KZ-Arzt alltäglich ausgeübt haben muß. Und sein Moriarty in The Seven Percent Solution (Kein Koks für Sherlock Holmes) mag auf den ersten Blick auf die Studie eines verängstigten Mathematiklehrers wirken, doch Olivier läßt uns dessen diabolische Züge nicht vergessen - schließlich ist er schuld am Kindheitstrauma des Meisterdetektivs.

Olivier spielte Vaterfiguren, an deren Macht man zerbrechen kann. In der TV-Serie Brideshead Revisited (Wiedersehen mit Brideshead) genügt ihm eine scharfe Gegenfrage, um die überschwengliche und noch etwas vage Kunstbegeisterung Jeremy Irons‘ in ihren Grundfesten zu erschüttern. In der schauderhaften Harold-Robbins -Verfilmung The Betsy (Der Clan) hält er noch als Greis die Zügel, auch was die erotischen Beziehungen angeht, fest im Griff, nachdem sein Sohn Robert Duvall sich als untauglich erwies. Daß in dem pseudomythischen Fantasyfilm Clash of the Titans (Kampf der Titanen) die Rolle des Zeus mit ihm besetzt wurde, ist nur eine ebenso triviale wie sinnfällige Variation dieses type casting.

Auch wenn Oliviers Kinoimage in den letzten Jahrzehnten so klar umrissen war, daß er es allein durch Gastauftritte und Charakterparts festigen konnte, hat er doch ganz verschiedenen Zuschauergenerationen ganz Verschiedenes bedeutet. Am Anfang schien noch alles möglich, alles offen. Neben der Garbo hätte er inQueen Christina spielen können; sogar Mantel- und Degenrollen absolvierte er (z.B. in Fire over England) mit Brio. In der Epoche, in der Hollywood die britische Schauspielkultur am heftigsten hofierte, hatte er gar das Zeug zu einem matinee idol: Die mysteriösen Figuren, die er in Wuthering Heights undRebecca spielte, waren düster-romantisch genug, um das weibliche Publikum in die Frühvorstellungen der Filme zu locken.

Für das Nachkriegspublikum war er der Darsteller und Regisseur, der Shakespeare popularisierte, obgleich seine Interpretationen den Puristen zu gewagt (zu freudianisch) und den Cineasten zu theatralisch waren. Das Verlangen nach Spülstein-Realismus stellte er zur Zeit des British Free Cinema als schäbiger Vaudeville-Künstler Archie Rice in The Entertainer zufrieden. (Dies ist auch die Phase, in der er sich Rollen anverwandelte, die nicht übermächtig, sondern durchaus gewöhnlich waren.) Für das Publikum der siebziger und achtziger Jahre war er schließlich der größte Schauspieler unseres Jahrhunderts, dessen bloße Präsenz eine Unzahl schlechter Filme nobilitierte.

An diesem Mythos hat Olivier freilich kräftig mitgestrickt. Er hat die Öffentlichkeit nie vergessen lassen, daß seine Kinorollen für ihn kaum mehr als Fingerübungen waren. Seine wahre Liebe galt dem Theater, dem Medium, das die größte Kontrolle über Rolle und Publikum ermöglichte. Dort lagen seine wahren Aufgaben, als Direktor des Old Vic (der Hochburg des klassischen englischen Theaters) und als Leiter des National Theatres. Dort erkor ihn das Publikum zum Shakespeare-Darseller par excellence, dort feierte er auch Triumphe als Astrow in Onkel Wanja und als Edgar im Totentanz. Dort wird er eine Legende, ein Gigant bleiben.

Bei aller Aura des Monolithischen ist er mir dennoch am liebsten in der Miniatur, in der kleinen Geste. Am mühelosesten schlendert er durch einen Film von Otto Preminger, Bunny Lake is missing (Bunny Lake ist verschwunden). Dort spielt er einen Polizeiinspektor, der alles schon kennt und erlebt hat, der weiß, daß Busfahrer keine guten Zeugen sind, sondern Philosophen. Für die Heldin, deren Tochter verschwunden ist und deren Existenz jedermann im Film bestreiten will, wird er zu einem mitunter sarkastischen, skeptischen, letztendlich doch sympathischen Rettungsanker in einer Welt, die ihre grauenvolle und ungeordnete Kehrseite offenbart. Am Ende, als er Bunny gefunden hat, spricht er die beruhigendsten Worte, die ich je im Kino gehört habe: „Go home and get a good night's rest.“