Geburtstagsliteratur

■ Richtige Gedanken zur rechten Zeit

Die Jahre 1988 bzw. 1989 hatten oder haben es in sich; die „Null“ als beherrschendes Moment dieser Dekade bzw. Dezenien; rein rechnerisch kommen da schon einige Jahrzehntchen zusammen: 20 Jahre querulierende Achtundsechziger; 40 Jahre Koexistenz im freiesten Staat auf jemals deutschem Boden; 20.2.1989: 80.Geburtstag von Heinz Erhard; 22.6.1988: 90.Geburtstag von Erich Maria Remarque; 23.2.1989: 90.Geburtstag von Erich Kästner; 26.11.1989: 100.Geburtstag von Franz Jung; 15.1.1989: 100.Geburtstag von Walter Serner; 8.2.1989: 100.Geburtstag von Siegfried Kracauer; 16.4.1989: 100.Geburtstag von Adolf Hitler; 26.8.1989: 200.Geburtstag der „Erklärung der allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte“ durch die französische Nationalversammlung.

„Runde“ Geburtstage geben immer wieder Anlaß zur Würdigung

-sei's in Form von Retrospektiven, Werk- und Gesamtausgaben (im Schuber oder als Kassette), Hommagen, Zeitungsartikeln, Beiträgen in Feuilletons oder Kult(ur)-Magazinen. Dieses Jubiläums-Brimborium hat sicherlich seine Berechtigung trotz der oft unappetitlichen Akribie der nekrophilen Abdecker der Vergangenheit. Dennoch: Ein gutes Pfund bis zwei, drei Kilo gut abgehangener, jahrzehntealter Literatur, neu aufgelegt bzw. in neuer Aufmachung daherkommend, hat naturellemet per se mehr zu sagen als jenes durch cleveres Marketing und eine geschickte chronique scandaleuse in Auflagenhöhen gedruckte Elend. Drum: Rette sich wer kann vor der satanischen letzten Welt!

“...Es gibt keine andere Alternative, als diesen Männern (der (politischen) Atommafia, T.F.) ausdrücklich mitzuteilen, daß sie sich nun, einer wie der andere, als Freiwild werden betrachten müssen.“ (Günther Anders) Inwieweit hier der eine oder andere Andere weiter gedacht oder gar zu Ende gedacht haben sollte, mag dahingestellt sein.

Dem ist nichts mehr hinzuzufügen, und da dem so ist, wollen wir nunmehr zum Geschäft übergehen - in höllischem 'Tempo‘ natürlich. G.Anders gewaltiger Ausspruch findet sich in dem Buch des Karin Kramer Verlages mit dem etwas pardoxen Titel Ich hasse zu hassen, in dem die Autoren F.Amilie, Robert Halbach und Bernd Kramer der Gewalt einmal anders auf der Spur sind. Für 19,80 Mark unbedingt empfehlenswert!

Im Edition Nautilus Verlag erscheint die hervorragend edierte Franz-Jung-Werkausgabe, die nicht nur die zu Lebzeiten des Autors veröffentlichten Bücher und Artikel berücksichtigt, sondern auch den bisher unpublizierten Nachlaß - ein besonders für Jungianer atemberaubendes Unterfangen! Ein besonderer Leckerbissen: der anläßlich des 100.Geburtstages präsentierte Band Der Torpedokäfer. Hommage a Franz Jung für 29,80 Mark.

Im gleichen Atemzug soll das Gesamtwerk in zehn Bänden Walter Serners genannt werden - mit attraktiven Umschlagillustrationen von Volker Pfüller und für diese von Thomas Milch herausgegebene Taschenbuchausgabe erneut überarbeitet, ergänzt und teilweise neu geordnet; den nunmehr wieder in Kassette greifbaren Serner verdanken wir dem Goldmann Verlag, Kostenpunkt: 142 Mark.

Erich Kästners Romane und Gedichte geben sich in neuen Taschenbuchausgaben bei dtv die Ehre; jeder dieser - wenn ich richtig gezählt habe - 15 Bände ist für einen Preis zwischen 7,80 und 12,80 Mark erhältlich.

Zu Erich Maria Remarque wird auf die umfangreiche Taschenbuch-Edition im Ullstein Verlag verwiesen sowie auf den informativen taz-Artikel anläßlich des 90.Geburtstages Remarques von Karin König, der uns auch dessen Tätigkeit als Werbetexter bei den Continental-Gummiwerken (1923) nicht vorenthält: „Warum in die Ferne schweifen, fahre lieber Conti-Reifen.“

Aus der Fülle der Literatur zum 200. der Französischen Revolution haben es zwei Publikationen verdient (auch im pekuniären Sinne!), hier Erwähnung zu finden: Da ist einmal Jules Michelets epochale Darstellung der Geschichte der Französischen Revolution aus dem 19.Jahrhundert, hervorragend erzählt, wenn auch nicht immer auf dem neusten Forschungsstand - aber: Wer weiß schon, was er weiß!? Herausgegeben, versehen mit einer Einleitung von Jochen Köhler und erschienen im Eichborn Verlag, dem man angesichts der Sammlung Historica die endlosen Blödel-Broschüren zu verzeihen geneigt ist. Der Preis dieser fünfbändigen Leinenausgabe im Schuber ist nicht ganz billig: 248 Mark muß man schon dafür hinblättern.

Ein Kleinod im viel wörtlicheren Sinne stellt das im Residenz Verlag veröffentlichte Bändchen Aufzeichnungen aus der Gefangenschaft von Th. de Mericourt dar. Erstmals in deutscher Sprache legt hier eine französische Revolutionärin nicht nur ihre Eindrücke der Revolutionsjahre (inklusive Menschenrechte) nieder, sondern gibt auch Zeugnis über die Unterdrückung des eigenen Geschlechts. 16 Mark sollten den AnhängerInnen von liberte, egalite und Schwesterlichkeit diese 39 Seiten allemal wert sein.

Den Fans des „Angestellten“ S.Kracauer sei wiederum die äußerst informative und als Einführung gedachte Chronik des 'Marbacher Magazins‘ 47/1988, Siegfried Kracauer 1988 -1966, bearbeitet von Ingrid Belke und Irina Renz, ans Herz gelegt. Jenes Kracauers, dessen Streben - um beim Thema zu bleiben - der Aufklärung und Aufhellung der Theorie des Films Von Caligari zu Hitler galt. Die äußere und innere Gestaltung dieses Magazins ist darüber hinaus einfach delikat, und für einen Preis von zehn Mark erscheint jene Broschüre von 124 Seiten billig.

Zu den filmischen Besonderheiten der Herren Chaplin und Erhard bleibt insofern zu bemerken, daß hier - abseits einer ästhetischen Bewertung - nur eine Empfehlung ratsam erscheint: selber sehen!

Thomas Franz