Ein Ausstand im Zeichen der Perestroika

Versuch, einen Streik zu lesen / Mängel, die durch eine Politik der Umgestaltung überwunden werden sollen, sowie Schwächen der Reformdebatte wurden enthüllt  ■  Von Erhard Stölting

Berlin (taz) - Auf den ersten Blick scheint der Streik der Bergleute im westsibirischen Kusbass und im ostukrainischen Donbass nur wegen seines Ausmaßes erstaunlich zu sein; Streiks unterschiedlicher Größe hatte es in der Sowjetunion seit Stalins Tod 1953 immer wieder gegeben. Daß jetzt der Ausstand mit neuerlichen nationalistischen Unruhen und Massakern zusammentraf, zeigt nur, wie sich die Gefährdungen des politischen Systems summieren. Es ist nicht nur schwer geworden, das Land zusammenzuhalten, es scheint noch schwerer zu werden, einen Bürgerkrieg zu verhindern.

Aber gerade bei diesem Streik sollten die Momente nicht übersehen werden, die die gesellschaftliche Dynamik in einem positiveren Licht erscheinen lassen. So wäre das schiere Ausmaß des Ausstands ohne die umfangreiche Berichterstattung in Presse und Fernsehen nicht möglich gewesen. Bislang waren alle derartigen Ereignisse einer strikten Zensur unterworfen gewesen. Das hatte die Streikenden immer sehr rasch isoliert. Vor allem aber verhinderte es den Aufbau eines kollektiven Selbstbewußtseins. Das Muster der bisherigen Streiks war es, durch direkte Verhandlungen deren Widerstand zu brechen, dann die Rädelsführer zu verhaften und alles beim alten zu lassen. Die enttäuschten Arbeiter hatten nicht die Kraft zu neuen Kampfmaßnahmen und sahen keinen Widerhall in der zensierten Öffentlichkeit. Was gestern geschehen war, blieb je persönliche Erinnerung.

Die Arbeiter haben eine öffentliche Stimme

Nun haben die sowjetischen Arbeiter eine öffentliche Stimme gewonnen, sie beginnen selbst zu sprechen. Das eröffnet ihnen die Chance, nicht nur zu einer öffentlichen Interessenartikulation, sondern auch effizient ins politische Leben des Landes eingreifen zu können und eigene Erfahrungen zu akkumulieren.

Die Zensur ist also an den elenden Lebensumständen mitschuldig. Indem es den Arbeitern verwehrt war, ihre Interessen öffentlich zu artikulieren, hatten sie keine Möglichkeit, einen kontinuierlichen Druck auszuüben. Die Wirtschafts- und Verwaltungsbürokratien konnten sich auf ihre Planziffern konzentrieren. Die Arbeiter und ihre Reproduktion galten als zu minimierende gesellschaftliche Kostenfaktoren. Daß sie nicht von einem fernen Kommunismus, sondern von einem heute aushaltbaren Leben träumten, konnte jenen, die sich selbst über Privilegien ein relativ sorgenfreies Leben verschafften, egal sein. Die Arbeiter konnten sich durch Arbeitszurückhaltung, durch das Wegbleiben vom Arbeitsplatz oder durch Alkoholismus entschädigen. Das senkte zwar die Produktivität im gesamtgesellschaftlichen Maßstab, konnte aber wiederum als Planungsproblem definiert oder über - eh gezinkte Statistiken in ein Abstraktum verwandelt werden.

So blieben die wirtschaflichen Leitungsinstitutionen auf die Erfüllung ihrer Fünfjahrpläne und vor allem ihrer Jahrespläne fixiert. Die sowjetische Wirtschaft behielt ihre Besonderheiten: Die Investitionen und die produzierten Mengen waren gigantisch, die Verschwendung von Energie und Rohstoffen war gigantisch, die Umweltzerstörung war gigantisch - nur das Leben der Bevölkerung blieb ärmlich.

Gigantismus und Armseligkeit waren so konstitutiv, daß sie auch an der öffentlichen Symbolik ablesbar wurden. Die Bilder der sozialistischen Arbeitswelt erzählten von Großbaustellen, Bergwerken und Stahlwerken, aber nicht von den ArbeiterInnen in den Seifen-, Papier- oder Brotfabriken. Daß dort auch gearbeitet und gesellschaftlicher Reichtum produziert wird, hätte zu Unrecht lächerlich gewirkt. Die mythische Selbstbeschreibung verschwieg das alltägliche Leben der Bevölkerung, das politisch und wirtschaftlich vernachlässigt wurde.

Es liegt nun eine Ironie darin, daß es ausgerechnet Bergleute waren, die den großen Streik begannen. Wie die Stahlwerker gehörten gerade sie zu den mythischen Grundtypen des sozialistischen Heroismus. Die waren auch relativ privilegiert - wenn man unter diesen Lebensumständen davon überhaupt reden kann.

Indem sie sich in Bewegung setzten, haben sie auch einige vorschnelle Deutungen der sowjetischen Gesellschaft widerlegt. Das Bild einer apolitischen und gleichgültigen sowjetischen Arbeiterschaft stimmte nicht. Die Bergleute haben den Streik nicht nur effizient organisiert, sie haben ihn auch diszipliniert; es gab eben keinen wilden Aufstand, der von Außenstehenden mühsam hätte interpretiert werden müssen.

Indem der Streik weitgehend ohne Symbole - ohne bunte Nationallappen oder schwarze Madonnen - auskam, konnte er sich auf die realen Ursachen des Elends richten. Daß die Forderungskataloge von der Seife und den Öffnungszeiten der Kantinen, über die städtischen Infrastrukturen und die betriebliche Selbständigkeit bis zur Verfassungsänderung reichten, zeigt nicht Maßlosigkeit, sondern Einsicht in Zusammenhänge.

Schließlich hat sich die These einer potentiellen Koalition von rückwärts gewandten mittleren Funktionären und autoritätshörigen Arbeitern nicht bewahrheitet. Der Angriff richtete sich gegen den bürokratischen Apparat und nicht gegen die Reform. Die örtlichen und regionalen Funktionäre galten als ebenso unglaubwürdig wie der Bergbauminister Schtschadow. Die Durchstöberung von Funktionärswohnungen verweist nicht auf einen räuberischen Mob, sondern auf einen Egalitarismus, der sich direkt gegen das Privilegiensystem wendet.

Der Streik paßt also genau ins Konzept der Perestroika. Er entspricht zum Teil sogar der neuen Konzeption des Obersten Sowjet, die sich eher an Interessengruppen als an Parteienpluralismus orientiert. Allerdings haben die Arbeiter bisher keine institutionalisierte Stimme. Wenn der Gewerkschaftsverband die Forderungen, aber nicht ihre Äußerung als berechtigt bezeichnete, dann ist er eben auch weiterhin nur Transmissionsriemen von oben nach unten. Darauf spielte die Schelte Gorbatschows an.

Wie bei dem ganzen sowjetischen Umbau türmen sich die Probleme so gewaltig, weil sie vorher ignoriert worden waren. Die aufgelaufenen Probleme könnten die Reformer überfordern. Die Zugeständnisse, die den Arbeitern jetzt gemacht wurden, sind daher zweischneidig. Was ihnen zugestanden wird, fehlt an anderer Stelle. Konsum, der über Schulden bezahlt wird, lindert akute Not, hindert aber an der dringenden Sanierung des Staatshaushalts. Eine rasche Verbesserung der Infrastruktur und der Versorgung mit Konsumgütern ist kurzfristig nicht zu schaffen. Es fehlt nicht nur das Geld, es fehlt bislang auch ein dazu geeigneter Staatsaufbau.

Der Streik enthüllt allerdings nicht nur Mängel, die durch die Perestroika zu überwinden wären, er macht möglicherweise auch konzeptionelle Mängel der Reformdebatten deutlich. Daß es keine einfachen Lösungen gibt und daß der menschenfeindliche Kommandosozialismus weder einen vernünftigen Umgang mit den Ressourcen noch eine politische Artikulation der Bürger noch eine Orientierung auf ein menschenwürdiges Leben ermöglicht, ist nachgewiesen. Wie es aber - in aller Vorsicht - eine verantwortungsvolle gesamtgesellschaftliche Vernunft geben könnte, läßt sich an den westlichen Gesellschaften auch nicht ablesen. Die schwierige Situation der Sowjetunion ist bislang nicht auch als eine Chance begriffen worden.