„Das Urteil ist illegal“

■ Am Ende des Terrorprozesses gegen Dev Yol geben die Angeklagten nicht auf / Ein Bericht von Ömer Erzeren

Nach einer durchschnittlichen Untersuchungshaft von fünf Jahren wurden vom Staatsanwalt immer noch 74 Todesurteile gefordert. Über 2.000 Menschen waren in Zusammenhang mit dem Dev-Yol-Prozeß in Ankara festgenommen worden. Die erste Anklage gegen 574 Personen forderte 185 Todesurteile. Im Laufe der Zeit stieg die Zahl der Angeklagten auf 723 und die der geforderten Todesurteile auf 236. Eineinhalb Monate benötigte der Militärstaatsanwalt nach Beginn des Prozesses am 18. Oktober 1982, um die 1.200 Seiten der Anklageschrift zu verlesen. Alle Angeklagten sagten vor Gericht aus, daß sie in der 90tägigen polizeilichen Haft ohne richterlichen Haftbefehl gefoltert wurden. Über 600 Strafanzeigen gegen die Folterer wurden während des Prozesses vorgebracht.

Bereits um 5 Uhr morgens haben sich Dutzende eingefunden. Immer neue Menschen kommen hinzu. Zuletzt warten Hunderte vor dem Eisentor Nummer 2 der Militärkaserne Mamak darauf eingelassen zu werden. Die zwei Warteschlangen sind nach Geschlecht getrennt. Während die Männer sich diszipliniert der Reihe nach aufstellen und schweigsam die Stunden verstreichen lassen, herrscht stets Unruhe, Lärm und Bewegung bei den Frauen. Aus der Warteschlange wird ein chaotischer Pulk: menschen, die sich dutzendweise umarmen, küssen, weinen. „Könnt ihr euch nicht anständig benehmen“, schreit ein offizier hinter dem Tor die Frauen an.

Die Zuschauer, die zur Urteilsverkündung des Militärgerichts Ankara gegen die nach dem Militärputsch 1980 verbotene Organisation Dev-Yol (Revolutionärer Weg) gekommen sind, kennen sich seit Jahren. Zumeist sind es Familienangehörige der Angeklagten. In den Tagen der Hungerstreiks der politischen Gefangenen im Militärgefängnis Mamak, während der Besuchstage im Gefängnis, in den Gerichtsterminen haben sie sich kennengelernt. Seit sieben Jahren währt der Prozeß. Dreimal in der Woche waren im Durchschnitt Verhandlungstermine angesetzt. Die Militärs hatten 1981 inmitten des riesigen Militärareals Mamak ein neues Gebäude errichten lassen - für politische Massenprozesse: Die vorhandenen Räumlichkeiten reichten nicht aus.

Soldaten in Kampfanzügen, schwerbewaffnet mit Maschinenpistolen sowie scharfgerichtete Schäferhunde bilden einen Kreis um die Zuschauer, die nach stundenlangem Warten mit dem Bus vom Tor der Kaserne vor das Gerichtsgebäude gefahren wurden. Zwei Soldaten mit einem Haufen klirrender Handschellen verlassen das Gebäude. Die inhaftierten Angeklagten sind in den Saal geführt worden. Die Zuschauer werden eingelassen. Unter der Atatürk-Fotografie, zwei türkischen Flaggen und der Inschrift „Gerechtigt ist die Grundlage des Eigentums“ nehmen fünf Militärrichter Platz. Der letzte Prozeßtermin gegen Dev Yol hat begonnen.

Ein Gericht ohne Recht

„Dieses Gericht hat nicht die Legitimation, über uns zu urteilen. Das Urteil ihres Gerichtes ist rechtswidrig und verfassungswidrig. Sie haben Recht und Verfassung gebrochen. Sie haben Geständnisse, die unter Folter erpreßt wurden, als beweiskräftig anerkannt. Sie sind das Gericht der Septemberjunta. Die Türkei hat vor kurzem die europäische Menschenrechtskonvention gegen folter unterzeichnet. Sie halten sich nicht daran. Wir werden Klage vor der europäischen Menschenrechtskommission erheben. Ihr Gericht ist illegal.“ Oguzhan Müftüoglu, einer der Hauptangeklagten des Prozesses wendet sich den Richtern zu. „Bitte, Sie können Ihr Urteil verkünden.“ Der 44jährige Müftüoglu, Mitglied des Zentralkomitees von Dev Yol und Rechtsanwalt von Beruf, ist ein brillanter Redner: Kein überflüssiges Wort, Präzision in der Argumentation. Keine Aggression, keine Härte findet sich in seinem Tonfall. Mit freundlichen, weichen Gesichtszügen spricht der Mann, der ein halbes Jahr in den folterkammern verbrachte und seit neun Jahren im Militärgefängnis Mamak einsitzt, Selbstverständlichkeiten aus. Nicht der Staatsanwalt, der gegen ihn die Todesstrafe fordert, nicht die Richter, die ihn heute zu lebenslänglicher Haft sind die Autorität im Gerichtssaal. Ohne Erlaubnis der richter hat er das Wort ergriffen. Die von den Putschgenerälen nach 1980 eingesetzten richter verfügen keine Räumung des Saales, keinen Knüppeleinsatz der Soldaten, wie in den ersten Jahren des OProzesses. Sie sind fest entschlossen, daß Mittwoch, der 19. Juli 1989 der letzte Tag des Dev-Yol-Prozesses vor ihrem Gericht wird.

Urteilsverkündung: Ein Paragraph des Strafgesetzbuches und das Strafmaß wird genannt. Es folgen Nummern und Namen der Angeklagten. 723 Nummern sind zu verlesen. Wie bei der Bekanntgabe der Lotterienummern werden sie in rasantem Tempo, für die Zuschauer kaum hörbar, per Mikrophon von den Militärrichtern verlesen.

Ich habe mich vorbereitet. Auf meinem Notizblock sind die beiden Pragraphenm, mit denen die herrschenden ihre Feinde zur Strecke bringen, niedergeschrieben. Paragraph 146: „Wer mit Gewalt versucht, die Verfassung der türkischen Republik ganz oder teilweise zu ändern oder zu verändern oder aufzuheben oder die aufgrund dieser Verfassung gebildete Große Nationalversammlung zu entmachten oder an der Ausübung ihrer Befugnisse zu hindern, wird mit dem Tode bestraft. Wer ... zur Begehung dieser Verbrechen auffordert, indem er entweder allein oder mit anderen gemeinsam durch Wort, Schrift oder Tat eine Veschwörung anzettelt oder auf Plätzen und Straßen reden hält, Plakate anheftet oder Veröffentlichungen erläßt, wird, auch wenn es bei einem Versuch bleibt, gleichfalls mit dem Tode bestraft. Die Gehilfen werden mit Zuchthaus von fünf bis zu fünfzehn Jahrenb bestraft.“ Dann den POaragraphen 166, Bildung einer bewaffneten stattsfeindlichen Vereinigung.“ Während der Richter Nummer und Namen verliest, versuche ich Strichlisten zu machen. Nach 5 Minuten gebe ich auf. Die Akustik des Saals und das Tempo der Urteilsverkündung verhindern die Aufschlüsselung. Panik herrscht auf den Pressebänken, niemand vermochte exakte Strichlisten zu führen.

Geduld und Ruhe dagegen bei den inhaftierten Angeklagten und auf den Zuschauerbänken. Man denkt sich das Urteil: Die noch inhaftierten Angeklagten, die Führungsgruppe von Dev Yol werden zu lebenslänglicher Haft und zum Toide verurteilt werden. Diejenigen, die jahrelang in Untersuchungshaft vernbracht haben, werden eine Haftstrafe erhalten, die sich ungefähr mit der Länge der U-Haft deckt. Den begriff verhältnismäßigkeit gibt es nicht in diesem Prozeß. Der Umgang mit Maßstäben ist verlorengegangen. Die Aushändigung der schriftlichen Urteilsbegründung an die Angeklagten wird wohl noch ein Jahr in Anspruch nehmen. Die Revision vor dem militärischen Kassattionshof kann noch fünf bis sechs weitere Jahre dauern. So kommt man auf Haftzeiten von 15, 16 Jahren - dieses Verfahren ist Hauptinhalt der Klage vor der europäischen Menschenrechtskommission, die die Anwälte nunmehr anstrengen werden.

Nahezu alle Angeklagten haben vor dem Gericht die extremen Folterungen im Polizeipräsidium Ankara beschrieben. Eigens für Dev Yol w2aren mehrere Teams des Folterzentrums DAL abgestellt. Über 600 Strafanzeigen erstatteten die Angeklagten während der Prozeßdauer. Die Angeklagten Zeynel Abidin Caylan, Behcet Dinlererm Adil Yilmaz und Sahin Dokuyucu starben in den Händen ihrer Folterer. Solange die ihrer Professi9on als Folterer nachgingen, kamen sie nicht mit der Justiz aneinander. „Ausmerzung“ hatten schließlich die Generäle auf ihre Fahnen geschrieben. Erst später kamen viele ehemalige DAL-Mitglieder in Bekanntschaft mit der Justiz. Wegen Vergewaltigung, Mord an „normalen“ menschen, Raubüberfällen, Schioeßereien in Night-Clubs. Nur per Zufall kam es zu zwei prozessen gegen Folterer. Der Folterer und Mörder von Zeynel Abidin Ceylan, DAL-Mitglied Mustafa Haskiris wurde kurz vor seiner Verurteilung auf freien Fuß gesetzt. Erst Jahre später wurde er bei einem Raubüberfall auf einen Juwelier in Istanbul gefaßt.

„ich habe Oguzhan Müftüoglu und Nasuh Mitap erstamalig im März 1981 im Militärgefängnis Mamak gesehen. Nasuh Mitap war gelähmt. Er konnte nicht auf den eigenen Beinen stehen. Ein anderer gefangener brachjte ihn auf den Rücken und setzte ihn auf eine Tonne. Er konnte nicht sprechen.“ So beschrieb Rechtsanwalt Ibrahim Tezan einen Tag vor der Urteilsverkündung seinen ersten besuch bei seinen Mandanten im Militärgefängnis Mamk. Wenige Minuten durfte er umringt von Soldaten und durch Gitter getrennt seine Mandanten sprechen. Die Folterspuren waren noch nicht geheilt, obwohl selbst die von den Militärs auf 90 Tage hochgesetzte polizeiliche Haft ohne Haftbefehel, sprich Folterzeit in den Räumen der DAL, überschritten worden war. Rechtsanwalt Tezan weist auf mehrere Aktenordner. „Ich habe Hunderte von Eingaben an die Militärstaatsanwaltschaft wegen Folterungen an Mandanten gemacht. Die meisten wurden nicht einmal beantwortet.“ Eine ausländische Journalistin stellt ihm e3ine Frage zur demokratie in der Türkei. „Demokratie“, sagt Tezan in einem verdrießlichen Ton. „Ja Demokratie, sie sehen doch den Dev Yol Prozeß.“

Die Angeklagten haben zusätzlich zu ihrer politischen Verteidigung 250 Seiten verfaßt, die detailliert Foltermethoden und Folterer zum Inhalt haben. Ayse Pekdemir wurde zusammen mit ihrem Ehemann im Januar 1981 festgenommen. Gemeinsam wurden sie von DAL-Teams gefoltert. „Du weißt nicht, wann Tag und wann Nacht ist. Ich roch den Alkoholgestank der Folterer. Einmal konnte ich unter der Augenbinde den Folterer Bekir Pullu sehen, wie er die Elektroschocks gab. Er verspürte richtige Lust, während er den Apparat bediente.“ Sie blieb zwei Monate im DAL-Zentrum, ihr Ehemann Melih Pekdemir wurde einen weiteren Monat dort gehalten. Dann die Zeit im Militärgefängnis Mamak. „Zur Strafe sperren sie dich in die 1 qm große Zelle. Manchmal wird Wasser eingelassen, daß der Grund naß ist. 15 Tage bist du nur mmit deinen Exkrementen zusammen.“ 26 Monate blieb sie in Haft. Ihr Ehemann Melih gehörte bis zuletzt zu den inhaftierten Angeklagten im Dev Yol-Prozeß.

Kasernen-Regime

Anderthalb Stunden dauerte die Verlesung: 723 Nummern und Namen im Gerichtssaal. Sieben Todesurteile, 39mal lebenslänglich und 336 Haftstrafen zwischen zwei und zwanzig Jahren hat das Gericht verkündet, werde ich später erfahren. „Von euch haben wir dieses Urteil erwartet“, schreit eine Zuschauerin. „Zieht die Juntamörder zur Verantwortung“, „Nieder mit dem Faschismus“. Zuschauer wie Angeklagte rufen Parolen. Revolutionäre Lieder werden angestimmt. Die Militärrichter sind im Nu verschwunden. Die Drecksarbeit ist anderen überlassen. Mit der Räumung der Pressebänke beginnen die Soldaten.

Schreiend verläßt eine alte Frau das Gebäude. „Es wird der Tag kommen, wo wir mit den Herrschenden abrechnen werden.“ „Mit den Bulgaren-Türken machen sie Propaganda, unsere Kinder werden zugrundegerichtet“, sagt eine andere. Ich treffe auf Ayse Pekdemir. „Dein Ehemann wird freigelassen.“ „Hast du es tatsächlich gehört?“ Wie die meisten hat auch sie von den Zuschauerbänken aus die Urteilsverkündung nicht verstehen können.

Wir steigen in den Bus, der uns zum Tor Nummer 2 des Militärgeländes fahren wird. Es ist kein Militärbus, sondern ein städtischer Linienbus, der bezahlt werden muß. Den Putschisten gebührt das Verdienst, innerhalb einer verbotenen militärischen Zone, im Militärareal Mamak, eine städtische Buslinie errichtet zu haben. Auf Anordnung des Kriegsrechtkommandanten richteten die Verkehrsbetriebe Ankara die städtische Buslinie mit drei Haltestellen ein. Die Putschisten von 1980 haben diesem Kasernen-Regime auch eine Organisation des Alltags gegeben - so etwas wie Linienbusse eben.