Und die Nordsee?

Als im Frühsommer des letzten Jahres an Kattegat und Skagerrak die giftige Planktonalge „Chrysochromulina polylepis“ in voller Blüte stand und 15 Meter tief das Meeresleben abtötete, wurde manifest, daß das Ökosystem Nordsee kurz vor dem Umkippen steht. 1989 blieb die Algenflut in den nordatlantischen Randmeeren weitgehend aus, obwohl sich nichts verbessert hat. Auch in diesem Jahr gelangen mindestens 1,5 Mio. Tonnen Sticktoff in die Nordsee - warum die giftigen Mikroalgen ausgeblieben sind, weiß weder das Kieler Umweltministerium (Sprecher Götze: „Das Planktonvorkommen entspricht der sommerlichen Nährstoffsituation“) noch das Institut für Meereskunde der Uni Hamburg (Professor Backhaus: „Die Nährstoffzufuhr erfolgt kontinuierlich, man weiß nur nicht, welche Algen davon profitieren“). Der Ministerpräsident des Ferienlandes Schleswig-Holstein konnte vor wenigen Tagen angesichts der Situation an der Adria zum bedenkenlosen Bad an die Strände von Ost- und Nordsee laden.

Die „Roten Tiden“ kannten schon die christlichen Seefahrer vergangener Jahrhunderte als nordseetypisches Phänomen. Bis Anfang dieses Jahrhunderts nahm man an, daß es sich um leuchtenden Fischlaich handelt, inzwischen ist erforscht, daß die rote (zuweilen auch gelbe, grüne oder braune) Färbung der Meeresoberfläche von Flagellaten herrührt, einzelligen toxischen Geißelalgen, die sich im warmen Wasser und unter Sonnenenstrahlung explosionsartig vermehren können und für andere Meereslebewesen tödlich sind. Seit zwei Jahrzehnten wird beobachtet, daß besonders in küstennahen Gewässern vermehrt Rote Tiden auftreten. Und es ist auch bekannt, warum: Der Düngemittel- und Fäkalieneintrag aus der Landwirtschaft, Waschmittelrückstände, die die Kläranlagen passieren und über die Flüsse ins Meer gelangen, mästen das Plankton.

Die Wissenschaftler sind kleinlaut geworden, obwohl die Nordsee das am genauesten erforschte Meer der Welt ist. Das letztjährige Geschehen in der Randsee des Nordatlantik hat ihnen gezeigt, daß die Zerstörung weiter fortgeschritten ist, als sie erwartet haben: Die Streßfaktoren können nicht mehr abgepuffert werden, die Sedimente sind so stark mit Schadstoffen gesättigt, daß sie, wenn unruhige See sie aufwirbelt, selbst zu Giftquellen für tiefere Wasserschichten und deren Population werden. Es ist völlig unklar, an welcher Stelle des Ökosystems der nächste Zusammenbruch stattfinden wird.

Die Bezeichnung „Killeralgen“ verschleiert die wahre Täterschaft - die Nordseekiller sitzen an Land und sind bekannt: Landwirtschaft, Industrie, Verkehr - der Mensch bringt die Nordsee um, mit Phosphor und Nitrat, Schwermetallen und chlorierten Kohlenwasserstoffen. Die „Killeralge“ Chrysochromulina kennen die Wissenschaftler erst seit den sechziger Jahren. Daß sie Gifte freisetzt, wurde erst im letzten Jahr deutlich, als es den norwegischen und schwedischen Fischfarmern an die Bestände ging. Fische und Fischer konnten erst wieder aufatmen, als der natürliche Lebenszyklus der Algen beendet war. Weitere Konsequenzen der Algenblüte sind nicht erforscht, Folgeschäden aber wahrscheinlich.

Denn die Flagellaten verdrängen andere Mikrolebewesen: Die ungiftigen Kieselalgen - wie sie jetzt an der Adria zu Schaum geschlagen anlanden - beispielsweise, die in silikatreichem Wasser gedeihen. Wenn einzelnen Planktonarten aber aus dem Meer verschwinden, wird das maritime Nährungsnetz gestört, Folgekonsumenten werden um ihre Lebensgrundlage gebracht.

Den größten Teil der Kleinstlebewesen kennt der Endverbraucher Mensch nicht, er kann deshalb auch nicht wissen, wie folgenschwer seine Eingriffe in das Meeressystem sind, wie sich die künstlich erzeugte Veränderung der Artenzusammensetzung auswirkt. Die Krankheiten und das Aussterben höherer Arten, wie Fische und Seehunde, sind aber Indikator für die Instabilität des ökologischen Gefüges.

Wenn die Kurdirektoren zwischen Borkum und Sylt jetzt mit dem Finger auf Italien zeigen und die hervorragende Badewasserqualität der Nordseebäder preisen - in Erwartung eines ebenfalls hervorragenden Geschäfts in der Nachsaison -, sind sie vorlaut. Denn der nächste Zusammenbruch des Ökosystems vor unserer Tür steht bevor. Wir genießen nur die kurze Zeit der Ruhe vor dem Sturm.

Michael Berger