ZK-Kritik an Gorbatschow

■ 'Prawda‘ veröffentlicht Protokoll der Sitzung / Streiks flauen ab / Ökonomische Selbständigkeit für Gruben

Moskau (dpa/ap/taz) -Die jüngsten Streiks im sowjetischen Kohlebergbau haben im ZK der KPdSU zu heftigen Kontroversen und scharfer Kritik an Parteichef Gorbatschow geführt. Nachdem gestern die Streik in der Region Kusbass vollständig beendet wurden, scheint sich auch die Lage in den restlichen Ausstandsgebieten zu beruhigen. Unterdessen veröffentlichte die 'Prawda‘ in ihrer gestrigen Ausgabe ein ZK-Protokoll vom Dienstag, das erstmals seit Beginn der Arbeitskämpfe die Reaktionen prominenter konservativer Parteifunktionäre enthüllt. Während sie mehr oder weniger deutlich die sowjetische Reformpolitik für die jüngsten Streiks und Nationalitätenunruhen verantwortlich machten, konterte Gorbatschow die Attacken auf derselben Sitzung mit der Forderung nach grundlegender personeller Erneuerung der Partei. Sie bedürfe, so der Parteichef, „eines Zustroms frischer Kräfte“ auf allen Ebenen, vom Arbeitskollektiv bis zum Politbüro.

Ähnlich besorgt über den Zustand der Partei äußerte sich Ministerpräsident Ryschkow. „Niemals in ihrer Geschichte“ sei die KPdSU mit sovielen Anklagen konfrontiert worden, nachdem sie „praktisch ihre Autorität in den Augen des Volkes verloren“ habe. Zwar halte er es für übertrieben zu sagen, die Partei sei in Gefahr, dennoch existiere diese Möglichkeit. Es gelte mit allen Mitteln der Perestroika die Partei wieder zu stärken.

Eine Erneuerung ganz anderer Art muß dem Parteichef von Swerdlowsk, Lew Bobykin, vorschweben, der auf der Sitzung die Einsetzung eines zweiten Sekretärs neben Gorbatschow forderte. Bobykin hatte zuvor die offene Streikberichterstattung in den Medien kritisiert und in einen generellen Angriff gegen die Politik der Glasnost übergeleitet: Es gelte zwischen einem „gesunden Pluralismus der Meinungen“ und einer „offenen Zersetzung der Gesellschaft“ zu unterscheiden.

Auch der lange als konservativer Gegenspieler Gorbatschows apostrophierte Jegor Ligatschow, um den es in den letzten Monaten etwas ruhiger geworden war, meldete sich auf der Debatte zurück. Das Poliltbüromitglied kritisierte die von Streiks und Nationalitätenkonflikten bestimmmte Lage: „Was ist das für ein sozialistischer Staat, der seinen Bürgern keine persönliche Sicherheit und ein ruhiges Leben garantieren kann?“ Ligatschow forderte eine restriktivereKontrolle der Medien. Unterstützung erhielt er durch den Parteisekretär von Rostow am Don, Wolodin. Dessen schlichtes Credo lautete: „Man muß irgendwie regulieren, was in den Massenmedien gedruckt wird.“

Gorbatschow entgegnete, die kommunistische Partei müsse handeln wie eine revolutionäre Partei. Sie dürfe „nicht der Panik weichen, wenn revolutionäre Prozesse Realität werden“. Mit deutlichemn Hinweis auf die konservativen Kräfte sagte er: „Man kann die Partei nicht in diesem Zustand belassen. Während ringsum alles gärt.“

Mittlerweile hat der sowjetische Gärungsprozess zumindest an der Streikfront etwas nachgelassen.Die streikenden Bergleute haben einen Fortsetzung Seite 2

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großen Teil ihrer Forderungen durchgesetzt und sind in einigen Revieren an die Arbeitsplätze zurückgekehrt. Wie die amtliche sowjetische Nachrichtenagentur 'Tass‘ am gestern meldete, hat sich das Leben im Kusnezker Kohlerevier, wo der Ausstand vor zehn Tage seinen Anfang nahm, wieder vollständig normalisiert. Auch im ukrainischen Donez-Becken soll in den meisten Gruben wieder gearbeitet werden.

Nach Angaben des sowjetischen Kohleministers Michail Schtschadow erhalten die Kohlegruben mit Wirkung vom ersten August volle wirtschaftliche und rechtliche Selbständigkeit. Das mit den Streikkomitees in Kusnezk ausgehandelte

Papier gelte für alle Kohlereviere der UdSSR. Demnach erhalten die Gruben das Recht, über Plan geförderte Kohle zu ausgehandelten Preisen in der UdSSR und im Ausland in eigener Regie zu verkaufen. Außerdem dürften sie selbst ihre Arbeitsnormen und Lohnsätze festsetzen.

Die bestehenden Produktionsvereinigungen „mit ihrer kopflastigen Verwaltungsstruktur“ sollen nach diesen Angaben durch andere Organisationsformen ersetzt werden. Rückwirkend ab 1. Juli werden für Nachtschichten 40 Prozent, für Spätschichten 20 Prozent mehr Lohn gezahlt. Der Sonntag ist sofort generell ein arbeitsfreier Tag. Die Kohlegruben erhalten außerdem das Recht, einmalige Beihilfen für die Hinterbliebenen von Opfern von Grubenunglücken auszuzahlen.

Keine weiteren Angaben gab es ge

stern über die Entwicklung der Streiks in Workuta in Nordurßland, in Rostow am Don, Karaganda in Kasachstan und Dnjepropetrowsk in der Ukraine vor.

eis