Vegesacker Profiteur des Warschauer Gettos

■ Lehrstück über die Frage, welches Interesse das Kapital an der Ermordung von Juden hatte / Respektive Lehrstück über die junge BRD

Ein weiches rundes Gesicht, große Augen, ein lebenszugewandter Mund: Das ist Walter Caspar Többens, Vegesacker Textilkaufmann, ein Kriegsverbrecher, Betrüger, Millionär, brutaler Ausbeuter, „Kriegsgewinnler“. Er verstand es, im Warschauer Getto aus den eingesperrten Juden zugleich ihr letztes Vermögen wie auch in seinen Textilbetrieben die ihnen verbleibende Arbeitskraft herauszupressen, bevor sie nach Treblinka in die Gaskammern geschickt wurden. Am Ende des Krieges schaffte Többens Beute und geraubte Maschinen nach Westen.

Es überlebten Zeugen seines Verbrechens. Darum sollte er nach dem Krieg den Polen ausgeliefert werden, entkam jedoch auf dubiose Weise der amerikanischen Bewachung. In Vegesack führte er unbehelligt seine (inzwischen) Millionenfirma als geachteter Bürger und CDU-Mitglied weiter.

Die Geschichte des Herrn Többens: eine Geschichte über das Nazireich und die junge BRD. Der bekannte Journalist („Stern“) Günther Schwarberg erzählt sie in seinem neuen Buch „Das Getto - Geburtstagsspaziergang in die Hölle“ als Folge eines biographischen Zufalls: 1926 in Vegesack geboren, war dem kleinen Günther das Textilgeschäft in der Gerhard-Rohlfs-Straße ein Begriff. Sein Vater, ein Nazigegner, hatte verboten, bei „Többens“ einzukaufen. Többens sei ein Betrüger, der sein Geschäft den Juden abgenommen habe.

Viele Jahre später, 1958, stieß Schwarberg bei Recherchen zu Majdanek/Lublin auf einen Többens, der in Polen als einer der größten Verbrecher des Warschauer Gettos, als gehaßter Ausbeuter galt. Und Schwarberg rekonstruierte den Weg vom kleinen Textilbetrieb in Vegesack über ausgedehnte Rüstungsbe

triebe im Getto von Warschau bis zum Wirtschaftswunderbetrieb in Bremen-Nord.

Schwarberg berichtet über den Aufstieg eines Kapitalisten: „1940 besichtigt Walter Caspar Josef Többens das Getto. Er ist begeistert: 500.000 Menschen ohne Rechte. Billige Arbeitskräfte. Kostenlose Räume. Leere Schulen, Sporthallen, Fabrikgebäude. Braucht er Kapital? Er braucht keins, denn gibt es nicht tausende Nähmaschinen im Getto? Wer bei Többens arbeiten will, soll die eigene Maschine mitbringen. Das bringt dem Juden eine Arbeitsbescheinigung ein, und die bedeutet vorläufigen Schutz vor Deportationen. Ein Stück Lebensverlängerung also. Die Fabrikationsräume reichen nicht aus? Dafür gibt es Krankenhäuser, die brauchen nur von den Kranken geräumt zu werden. Was braucht man noch gesund gemacht zu werden, wenn man bald vergast wird?“ (S.11)

Zum begehrtesten Objekt im Getto wird die von Többens gegen Bares ausgestellte Arbeitskarte. Mit SS, Wehrmacht und Gestapo kommt der Vegesacker nach Bestechungsgeldzahlung bestens zurecht, er und sein Geschäftsführer Rudolf Bauch beteiligen sich auch an den Selektionen in „arbeitsfähig“ und „umzusiedeln“, der im Getto längst nicht mehr geglaubte Euphemismus für „Gas“.

In einem einzigen Augenblick scheinen Többens Geschäfte in Gefahr: Der Vernichtungspolitik eines Himmler geht es zu langsam mit dem Sterben der Juden; Rassismus gerät in Widerspruch zum Kapitalinteresse Többens‘, der sich „hier im Verlaufe von drei Jahren von einem früher besitzlosen Mann zu einem wohlhabenden Bürger - wenn nicht sogar

schon zum Millionär - entwickelt hat“ (Himmler, „Reichsführer SS“). Doch Többens hat einen langen Arm in die Zentrale der Macht und bleibt völlig ungestört.

Im Januar 1943 beginnt im Getto der Widerstand mit militärischen Aktionen. Többens verlagert seine Betriebe nach Poniatowa bei Lublin, dem Vernichtungslager Majdanek, um die Ar

beitskraft der übriggebliebenen Juden so lange wie nur möglich auszubeuten. Bis SS-Truppen und Polizeiverbände das Lager Poniatowa zur „Aktion Erntefest“ umstellen und alle 15.000 Menschen dort erschießen. Walter Caspar Többens und sein Direktor Bauch sehen zu bzw. haben sich „um die Sicherung der Maschinen gekümmert“. Vor Kriegsende erhält Többens genug

Transportkapazität Zügen, die eigentlich für Verwundete bestimmt waren, um die geraubten Maschinen nach Delmenhorst in Verstecke zu bringen.

Többens starb 1954 in Bremen. Seine Familie blieb im Geschäft (Slogan „Wir sind da, wo der Trend ist“), bis die Firma 1988 wegen veruntreuter Millionenunterschlagungen vermutlich durch die Inhaber schließen mußte.

In einem zweiten Teil seines Buches stellt Günther Schwarberg der Dokumentation des Falles „Többens“ eine andere Ansicht des Warschauer Gettos gegenüber: Fotos, die der Wehrmacht-Feldwebel Heinrich Jöst aus Langenlohnsheim am 19. September 1941 in Warschaau gemacht hat. Im Schreibtisch vergraben (er mochte die Bilder nie vorzeigen), gab er sie 1982 Schwarberg zur Veröffentlichung im „Stern“, wo sechs Jahre später einige der Fotos gezeigt wurden. Die schockierenden Bilder des Mangels und des Todes aus einer vernichteten Welt werden ergänzt von Erinnerungen des Fotografen und anderen Dokumenten auch aus der Nachkriegszeit, aus Protokollen von Gerichtsverfahren gegen Naziverbrecher.

Eine unheimlich dünne Frau, sie liegt im Sterben; der Totengräber bei seiner selbstverständlichen Arbeit am Massengrab; Händler und Rikschas in einer fast unversehrten Szene. Bettelnde Kleinkinder. Der gewinnträchtige Einsatzort eines Vegesackers, der von sich sagt, er wäre davongelaufen, wenn er im Getto nicht so gut verdient hätte.

Burkhard Straßmann

Günther Schwarberg: Das Getto. Geburtstagsspaziergang in die Hölle. Steidl Verlag, Göttingen 1989. DM 48.-