KINO MIT FILMRISS

■ Das Brüssel Projekt Berlin mit „Fridtjof Nansen“ im Ensemble-Theater

Zum Reisen ist Zeit nötig, vorher, währenddessen und hinterher. Reisen beginnt mit den Füßen. Ganz langsam entdeckt einer, daß er sich mit ihnen fortbewegen kann, während er noch darüber sinniert, kündigt eine Trompete schon mit leiser Imitation von Echolotsignalen die baldige Nordpolexpedition an.

Sieben SchauspielerInnen stehen in einem rechten Winkel vor dem neonblau erleuchteten Bühnenhorizont. 7 ergibt Gruppen von 3+4, 2+5, 1+6 oder: 1 trägt einen schwarzen Mantel, 2 weiße Laborantenkittel, 4 dezent erlesene Herrenjacketts zu Kniebundhosen und Wollstrümpfen. Unter dem Licht, das von Strahler zu Strahler wandert, bewegen sich die Gruppen auf unsichtbaren Linien, vor und zurück, von rechts nach links und umgekehrt, diagonal von Ecke zu Ecke oder kreisförmig. Später robben sie auch auf dem Boden entlang.

Der eine entdeckte staunend denkend seine Füße, andere erforschen ebenso das Nordpolgebiet. „Fridtjof Nansen“, betitelt nach dem norwegischen Forscher, der 1888 als erster Weißer Grönland durchquerte und als Politiker von 1921-23 Maßnahmen gegen die russische Hungersnot leitete, experimentiert mit Gesprächen von Teilnehmern einer Polarexpedition und dem Studium von Karten, Schiffsbauplänen und Vermessungslehrbüchern. Unter Leitung Matthias Wittekindts, einem ehemaligen Architekten, arrangierte das Ensemble die Forschungsergebnisse und Erinnerungen zu parallel laufenden Sätzen, die immer wieder unterbrochen und an anderer Stelle fortgeführt werden. So geometrisch, wie die Linien über die Bühne laufen, so streng komponiert ist auch der Einsatz der Sprache. Einzelne Stimmen übernehmen abwechselnd die Führung, tönen als Echo und setzen rhythmische Schwerpunkte, immer dem Prinzip 3 zu 4, 2 zu 5 usw. getreu, 6 wohlakzentuiert und präzise, nur einer flach und kaum zu verstehen, als traue er sich nicht, einmal tief die kalte Polarluft einzuatmen. Nach einer Weile lullt das auf- und abrollende Gemurmel ein und Bilder von Eisbergen, Robben und Eskimos tauchen auf. Aber immer, wenn aus den Bildern im Kopf schon ein kleiner Film wurde, brechen die Erzähler ab.

So taumelt man an der Grenze zwischen Wachen und Träumen dahin und fragt sich, ob da nicht zu viel Material ausgegraben wurde, das nur unnötiges Gepäck darstellt. Doch da ist die Gruppe schon im vorrevolutionären Rußland angekommen und beendet die Reise schließlich im Moskau der Revolution. Ein alter Architekt gräbt Erinnerungsstücke aus. Nun herrschen Ruhe und Statik, nur einzelne Hände wagen noch kleine Bewegungen. Während sich der Alte mit der sonoren Stimme darüber wundert, aus welchen Brocken sich die Summe seiner Erinnerungen zusammensetzt, werden die Moskauer Straßen lebendig. Stichworte werden ihm zugeflüstert, und das Gehirn spuckt selbst nach langer Zeit noch die dazugehörige Wahrnehmung aus, schließlich die Erinnerung an eine Treppe, die er einst gebaut hat.

Da ist die Aufführung wieder bei den Füßen angelangt. In nur einer Stunde hat der Kopf eine Reise von fast 100 Längengraden bewältigt.

C. Wahjudi

„Fridtjof Nansen“ vom Brüssel Projekt Berlin im Ensemble Theater am 24.Juli und vom 28. bis 31.Juli, jeweils um 21Uhr.