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Marokkos einzige unabhängige Zeitschrift wirft das Handtuch

■ Ausgerechnet ein kritisches Dossier über die Presse Marokkos führte zum dritten Auslieferungsverbot von 'Kalima‘ (Das Wort), der einzigen unabhängigen gesellschaftskritischen Monatszeitschrift Marokkos. Redaktion und Verlag sehen keine andere Möglichkeit mehr, als ihr Projekt einzustellen. Wir haben den Stein des Anstoßes aus dem letzten, dem März-Heft von 'Kalima‘ für die taz-LeserInnen übersetzt

Thomas Hartmann

Kalima‘ war eine große Ausnahme in der Medienlandschaft, nicht nur Marokkos, man kann sagen ganz Nordafrikas. Ein Forum der öffentlichen Auseinandersetzung, des Dialogs, der Ermutigung. Sprachrohr für die Sehnsüchte und Probleme der Jugend, der Männer und vor allem der Frauen, die mit den traditionellen Vorstellungen ihrer Umgebung, ihrer Familie und ihrer Arbeitskollegen in ständigem Clinch liegen. Gleichzeitig verfolgte 'Kalima‘ den Anspruch, die Themen viel journalistischer aufzubereiten, als dies in Marokko üblich ist. Sie pflegte Recherchen vor Ort, Reportagen, Untersuchungen und Interviews als Stilmittel aktueller Wahrnehmung der gesellschaftlichen Realität. Es kam ihr darauf an, Themen anzupacken, die für das Alltagsleben wichtig sind. Auch und gerade wenn es sich um gesellschaftliche Tabus handelte.

Das erste Mal wurde die Auslieferung von 'Kalima‘ im März 1988 verboten, als eine Titelgeschichte über „männliche Prostitution in Marokko“ im Blatt war. Seitdem mußte jedes Heft vor der Auslieferung dem Informationsministerium vorgelegt werden. Natürlich formell, nicht zu einer Pressezensur. Aber die Drukkerei belieferte die Kioske wohlweislich erst nach dem O.K. des Ministeriums. So wurde 'Kalima‘ zum zweiten Mal an der Verbreitung gehindert, als sie über die illegalen Abtreibungspraktiken in Marokko berichtete.

Bei der März-Ausgabe dieses Jahres schlug das Ministerium zum dritten Mal zu. Wieder wurde eine ganze Nummer zu Altpapier. Das Defizit vergrößerte sich. Verlag und Redaktion beschlossen nun, ihr für Marokko einzigartiges journalistisches Experiment einzustellen. In einem Pressekommunique wehren sie sich gegen den Vorwurf, das Ansehen Marokkos mit ihrem kritischen Dossier über die Presse des Landes verletzt zu haben. „Unser Ziel war es immer, nach bestem Wissen und Gewissen sowohl die Schatten als auch die Sonnenseiten Marokkos aufzuzeigen. Auch wenn dieser Ansatz unserer Bemühungen von einer wachsenden Leserschaft geteilt wurde, erachteten ihn die Behörden als Anmaßung.“ Schließlich sind sie konsequente journalistische Kritik und Recherche auch nicht gewohnt.

Zuletzt erreichte die Auflage von 'Kalima‘ mehr als 10.000 verkaufte Exemplare. Das ist beachtlich in einem Land, dessen rund 27 Millionen Einwohner zu zwei Dritteln Analphabeten sind. Alle einheimischen Tageszeitungen verkaufen zusammen nicht viel mehr als 300.000 Exemplare. Natürlich richtete sich die französischsprachige 'Kalima‘ an eine gebildete Mittelschicht, doch eher an die frustrierte akademische Jugend und ungeduldige Intelligenz als an die satte Wirtschafts- und Machtelite. Ungewöhnlich viele Frauen, deren Emanzipationsansprüche täglich mit den kleinen großen Herrschaftsmechanismen in allen gesellschaftlichen Bereichen zusammenprallen, gehören zum Leserkreis.

Und zur Redaktion: Hinde Taarji war Mitte 30, als sie bei der Gründung von 'Kalima‘ vor drei Jahren die erste marokkanische Chefredakteurin wurde. Sie baute mit der Zeit eine kleine Redaktion junger, engagierter JournalistInnen auf. Der Verleger, ein gestandener Publizist, hatte nach dem Scheitern anderer kritischer Zeitschriftenprojekte in den sechziger und siebziger Jahren zunächst das Metier gewechselt und eine inzwischen gut florierende Anzeigenagentur aufgebaut. Auf dieser Basis wagte er, 'Kalima‘ zu gründen. Ein ausreichendes Anzeigenvolumen sollte die redaktionelle Unabhängigkeit sichern. Die Zeitschrift, so das Konzept, sollte sich finanziell selber tragen, nicht wie alle anderen Publikationen von den Subventionen irgendwelcher Parteien oder Gruppen abhängig sein.

Die Redaktion fühlte sich den Maßstäben verpflichtet, die sie in ihrer letzten Nummer als Charakteristikum einer freien Presse formulierte: sich frei selbst über Tabus zu äußern, publizistisch zu intervenieren, die gesellschaftlichen Probleme auf der Höhe der Zeit zu thematisieren und Hintergründe aufzudecken. Doch unter dem ständigen Damoklesschwert willkürlicher Behördenentscheidungen erklärten Verlag und Redaktion sich Ende April nicht mehr in der Lage, diesen Ansatz weiterzuverfolgen - ein großer Verlust für die Presselandschaft Marokkos.

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