Becker in der Rolle des Lazarus

Beim Daviscup-Halbfinale gegen die USA kommt der Wimbledonsieger an einem Tag zu zwei Punkten: Gegen Agassi und mit Jelen im Doppel / 2:1-Führung für die BRD nach dem zweiten Tag  ■  Aus München Herr Thömmes

Irgendwann war es dann selbst dem Gelobten genug mit den Hymnen, die da am Samstag abend auf ihn gesungen wurden. Als Eric Jelen vor einer Gruppe amerikanischer Reporter anhob, die Geschichte vom wirklich unglaublichen Tennisspieler Boris Becker zu erzählen, fiel ihm der amüsiert ins Wort: „Hör jetzt bitte auf.“

Dabei war die Wortwahl von Beckers Doppelpartner noch vergleichsweise harmlos dazu, wie andere zuvor die Leistung des Leimeners an den beiden ersten Tagen des Halbfinales im Davis-Cup zu beschreiben versucht hatten. Niki Pilic beispielsweise, 49, Kapitän der bundesdeutschen Mannschaft, bemühte gar den juvenilen Superlativ. Was Becker beim 6:7, 6:7, 7:6, 6:3, 6:4 gegen Andre Agassi geboten habe, sei ein „Super-Super-Match“ gewesen: „Boris mußte das letzte Atom an Energie geben.“ Und Ion Tiriac, der Tenniskenner mit dem undurchdringlichen Gesicht, vermochte Erklärungen nur noch im Übersinnlichen anzusiedeln. Zwei Wochen nach einem Erfolg in Wimbledon, wie ist da ein solch konzentriertes Auftreten möglich von einem, der „doch auch nur ein Mensch ist“?

Es war ja auch von äußerst hohem sportlichem Wert, was in der Münchner Olympiahalle geboten wurde, nachdem in einem fehlerreichen Eröffnungsspiel Carl-Uwe Steeb gegen den McEnroe-Ersatz Brad Gilbert verloren hatte (2:6, 6:2, 6:2, 4:6, 3:6). Da trafen nämlich mit Becker und Agassi zwei Spieler aufeinander, die Tennis darboten mit höchstem Risiko und faszinierender Geschwindigkeit, bei einer erstaunlichen Erfolgsquote - viereinhalb Stunden lang. Kein Wunder, daß die beiden selbst zufrieden waren. Der 19jährige US -Amerikaner glaubt kaum, „daß ich viel besser spielen kann“, und die Nummer 2 der Weltrangliste erinnert sich nur an eine Gelegenheit, bei der er so lange auf solchem Niveau den Ball geschlagen hat: „Gegen McEnroe in Hartford.“

Dort war, ebenfalls im Davis-Cup, vor zwei Jahren sogar ein Rekord fällig. Sechseinhalb Stunden beharkten sich da die Kontrahenten, ehe Becker die Oberhand behielt. Doch diese Zeiten sind vorbei: Seit diesem Jahr wird auch im Davis-Cup der Tiebreak gespielt, am Freitag wurden gleich die ersten drei Sätze auf diese Weise entschieden.

Und Agassi nutzte die Chance, die schlechten Einschätzungen von ihm zu korrigieren. Außer Form sei er, hatte es geheißen, in Paris frühzeitig ausgeschieden; und fehlt einem nicht das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, wenn er auf den schnellen Böden von Melbourne und Wimbledon schon gar nicht antritt? In München aber flitzte er geschwind über den Teppichbelag, schlug Vor- und die beidhändige Rückhand mit Wucht und Präzision. Eigentlich war ja von Becker Vorführung des Serve-and-Volley erwartet worden, doch die Returns und Passierbälle von Agassi hielten ihn weitgehend an der Grundlinie. Von dort aus beförderten beide den Ball mit sichtlichem Lustgewinn und enormem Kraftaufwand übers Netz, und immer wieder wurden kleinste Nachlässigkeiten ausgenutzt: mindestens viermal pro Satz ging ein Aufschlagspiel verloren, und wenn Beckers Bälle etwas zu kurz gerieten, knallte sie Agassi mit einer Bewegung ins Feld, als würde er eine saftige Ohrfeige austeilen. (Das hinderte ihn nicht daran, zum Schluß übers Netz zu hüpfen und den verdutzten Sieger zu umhalsen.)

Es war ja fast alles gelaufen, als der Amerikaner im dritten Satz zum Matchgewinn aufschlug. Aber Becker überstand das und glich kurz vor Mitternacht sogar nach Sätzen aus. Hätte er nicht jetzt, im Aufwind, als das Match den Regeln entsprechend auf Samstag verschoben wurde, gerne weitergespielt? Wie denn, wo er doch fühlt, daß sein „Körper hinüber ist, reif fürs Krankenhaus“. Turniere in Düsseldorf, Paris, Liverpool, Wimbledon, das war zuviel in letzter Zeit. „Nach sechs solchen Wochen bin ich tot.“

Um so erstaunlicher, was der Lazarus dann tags darauf vollbrachte. Souverän meisterte er in Reihenfolge den fünften Satz mit dem Weltranglistensechsten Agassi, die Eröffnungsfeier mit der „Deutschen Blumenfee“ aus Bad Salzuflen und das Doppel gegen die Olympiasieger Ken Flach/Robert Seguso (3:6, 7:6, 6:4, 7:6). Und die hatten nach Beckers dreiviertelstündigem Auftritt im Einzel schon gar keine Lust mehr, sich mit ihm einzulassen. „Zu viel Druck“ komme von dem, weshalb sie sich ganz darauf konzentriert hätten, gegen Jelen ein Break zu schaffen, weil der ziemlich nervös begann. Häufig bietet sich dazu bei solch guten Spielern im Doppel keine Chance, ganze zweimal im gesamten Match ging ein Service verloren (von Becker und Flach). Und als Jelen im zweiten Satz nicht kippte, danach sogar „immer besser wurde“ (Flach), hatte das amerikanische Paar beim elften Einsatz im Davis-Cup die erste Niederlage zu verschmerzen.

Wie aber hat er es nun geschafft, der müde Wimbledonsieger, sich zu solch begeisterndem Tennisspiel aufzuraffen? „Keine Ahnung.“ Solange es so einen Ausgang nimmt, wird Becker mit diesem Rätsel gut leben können.