In Maine legal, in Missouri Mord

Abtreibungs-Debatte in den USA: Das Oberste Gericht gab Bundesstaaten das Recht auf restriktive Abtreibungsgesetze. Das aber ist ein fundamentaler Widerspruch zum in der Verfassung betonten Recht auf Selbstbestimmung. Oder sollte dies für Frauen nicht (mehr) gelten?  ■  Von Marcia Pally

Als der Oberste Gerichtshof der USA am 3.Juli sein Urteil im kontroversen Fall „Webster gegen Reproductive Services“ verlas, da entschied er über zwei zentrale Punkte:

1. Bundesregierungen können öffentlichen Angestellten verbieten, Abtreibungen vorzunehmen. Das gleiche gilt für Kliniken, die mit Steuergeldern unterstützt werden. Das führt dazu, daß gerade die armen Frauen und Familien, für die Familienplanung gerade am notwendigsten ist, dies noch weniger werden tun können.

2. Die neue juristische Auslegung erlaubt es Bundesstaaten, Mediziner damit zu beauftragen, die Lebensfähigkeit eines 20 Wochen (bis jetzt galten 24-28 Wochen als Minimum) alten Fötus außerhalb des Mutterleibes zu testen. Wenn ein Bundesstaat glaubt, daß der Fötus außerhalb des Mutterleibes überlebensfähig ist, kann er ab da Abtreibung verbieten. „Prick“ - ein Problem

Während der ganzen Verhandlungszeit vor dem Supreme Court hatte ich ein komisches Gefühl. Warum sollte verdammt noch mal Abtreibung vom Staat debattiert werden? Ein Gefühl der Irritation, das noch wuchs, als ich hörte, daß der Supreme Court im Herbst drei neue Fälle beraten wird. Egal ob Pro oder Contra Abtreibung, beide Lager scheinen die Einmischung des Staates akzeptiert zu haben. Ich hingegen bleibe verwirrt, auch wenn es da geduldige Versuche gibt, mir alles zu erklären. Eine Organisation gibt sich dabei besondere Mühe: „Prick“ - Practicum for Righteous Imposition of Cacophonous Know-it-alls. (Dies heißt wörtlich übersetzt: Praktische Übung für vielschwätzende Besserwisser zum selbstherrlichen Auftreten. Prick meint in US-amerikanischem Slang außerdem „Schwanz“ sowie „arroganter Typ“ oder „Idiot“. d.Red. Prick hat eine illustre Geschichte: ursprünglich nannte sich die Gruppe Government Knows Best, in der Hoffnung, an die Erfolge der beliebten Sendung der Fünfziger Father Knows Best anzuknüpfen. Aber die AmerikanerInnen verwechselten die Initialen GKB andauernd mit denen einer sowjetischen Organisation, deren Ansehen unerreichbar war.)

Prick hat in vielem die gleiche Ansicht wie ich - so zum Beispiel, die Verantwortung für das zu übernehmen, was man tut -, aber beim Thema Abtreibung werden wir uns nicht einig. Prick jedenfalls glaubt, daß jeder der 50 Bundesstaaten einzeln entscheiden sollte, ob Frauen abtreiben dürfen oder nicht. Ich hingegen halte es immer noch mit der altmodischen Regel, daß, wenn etwas in deiner Verantwortung liegt, du selbst entscheiden sollst, was zu tun ist. Das hat mir meine Mutter beigebracht. Sie sagte, für meine Barbie Doll müßte ich schon alleine sorgen. Verantwortung

Bei Regierungen ist es doch dasselbe: sie entscheiden über Geschwindigkeitsbegrenzungen, Müllbeseitigung und Armeen, weil sie dafür verantwortlich sind. Ähnlich ist es im schwierigen Fall der Sterbehilfe, wo Arzt und Patient (oder, wenn der Patient nicht mehr kann, Angehörige und Arzt) ohne staatliche Einmischung entscheiden. Denn auch hier fällt die Verantwortung auf sie zurück. Und so ist das auch mit Kindern.

Eltern entscheiden für und über ihre Kinder, weil eben die Verantwortung auf sie fällt. Und obwohl der Staat von Eltern bestimmte Standards bei der Behandlung der Kinder fordern kann - angemessene Verpflegung, Kleidung, Schutz vor Mißhandlung -, kann er das auch nur, weil darüber ein großer gesellschaftlicher Konsens existiert. Der Staat kann also nur fordern, weil ihm BürgerInnen (Eltern) das Recht dazu gegeben haben. Ansonsten zögern Sozialeinrichtungen, Gerichte und Polizei, in den Bereich elterlicher Gewalt einzudringen. Wenn zum Beispiel Eltern ihre Kinder zu Hause anstatt in einer öffentlichen Schule erziehen wollen, erlauben ihnen dies Gerichte in den meisten Fällen. Nur wenn Eltern auf üble Weise ihre Verantwortung vernachlässigen, indem sie beispielsweise ihre Kinder mißhandeln oder die Familie verlassen, verlieren sie das Recht, über das Kind zu bestimmen. Je mehr Verantwortung der Staat übernimmt, desto mehr Entscheidungen fällt er natürlich auch. Bis er die vollständige Verfügungsgewalt über das Kind hat.

Bei einer Schwangerschaft trägt im Gegensatz zur Kindererziehung nur eine Person Risiko und Verantwortung für die neunmonatige Anstrengung. Naiv wie ich bin, dachte ich, daß die Frau natürlich dann die Entscheidungsgewalt hat. Tausende Jahre war das so und hat gut funktioniert; Frauen treiben nicht einfach so ab; sie sind bewußter in ihren Entscheidungen und haben mehr Gewissen als Staat und Bundesregierungen zusammen - diese Möchtegern-Gebieter über Reproduktion. American Spirit

Die Verbindung zwischen Entscheidung und Verantwortung ist tief verwurzelt im amerikanischen Selbstverständnis und ganz fundamental für unser Regierungssystem, dem die Idee zugrunde liegt, daß jede/r verantwortlich für sein/ihr Leben ist und Entscheidungen, die es betreffen. „Das Volk“, von dem in der Verfassung die Rede ist, dieses Volk gab zwar bestimmte Rechte und Pflichten an die Regierung ab; der Rest aber gehört uns.

Abtreibungs-BefürworterInnen haben daraus zu schnell geschlossen, daß Frauen in diesem „uns“ eingeschlossen sind. Es gibt keine Formulierung in der Verfassung, die Wort für Wort einer Frau erlaubte, die Entscheidung über ihre Reproduktion zu treffen. Es existiert aber auch keine Klausel, die es dem Staat erlaubte, der Frau dies zu verbieten. Das kann nur heißen, daß Verantwortung und Entscheidung in den Raum der Privatsphäre der Frau gehören.

Prick meint, ich hätte da was nicht kapiert. Abtreibungs -Regelungen könnten nicht vom Individuum, sondern müßten vom Staat getroffen werden. Denn: Embryonen seien Menschen, die das gleiche Recht und den gleichen Schutz genössen wie der Rest von uns. Genauso wie Bundesstaaten Mord ahndeten, sollten sie das auch bei Abtreibung tun.

Wundert euch bloß nicht, daß die meisten Bundesstaaten so gleichgültig gegenüber allem sind, was mit Kindern zu tun hat: Versucht doch mal, Kindergelderhöhungen durchzusetzen. 75-80% der Gelder werden landesweit nicht ausgezahlt. Die, die dem Staat das Terrain überlassen wollen, wissen ganz genau, was sie damit anrichten. Die Bundesstaaten hätten nicht nur die Macht, Abtreibungen zu verbieten, sondern sie

-auch gegen den Willen der Mutter - zu erzwingen, wenn, sagen wir, der Fötus drogenabhängig und Aids-infiziert ist oder wenn die Erziehung des Noch-Nicht-Geborenen schon absehbar über Sozialhilfe finanziert werden müßte. Wollen die, die die Entscheidung von der Frau zum Staat schieben wollen, wirklich da enden?

Ich habe noch ein anderes Problem mit Prick. So viel ich auch darüber grüble. Der Glaube, daß Embryonen Menschen sind, ist für mich schlicht bullshit.

Abtreibung Mord?

Wenn die 1973 gefällte Entscheidung des Obersten Gerichtshofs - die der Frau das verfassungsrechtlich verankerte Recht auf Abtreibung zusprach - vom gleichen Gericht ganz umgeworfen werden sollte, würde Abtreibung eine Bundesstaatssache. Einige von denen, die jetzt schon in den Startlöchern sitzen, würden Leben mit der Befruchtung beginnen lassen und entsprechend Abtreibung kriminalisieren. Andere würden das Recht der Frauen auf Abtreibung schützen. Wenn Staaten Embryonen als Individuuen ansehen, würde das bedeuten, daß sie Abtreibung als vorsätzlichen Mord ahnden. Die Bestrafung müßte die gleiche wie bei Mord sein. Das würde nicht nur Küretage mit einschließen, sondern auch die Spirale und die „Pille am Morgen danach“. Was in Maine legal wäre und in Missouri Mord. Der Supreme Court ist hier in einer unangenehmen Situation, wenn er selbst einen konstitutionellen, nationalen Schutz der Reproduktionsfreiheit aufgibt, und einzelnen Staaten erlaubt, Leben mit der Befruchtung beginnen zu lassen.

Vielleicht ist es für ihn angenehmer, zuzugeben, daß ein Embryo nicht das gleiche wie ein Individuum ist. Zumindest, daß es darüber keine Einigkeit unter Medizinern, Juristen und der Öffentlichkeit gibt, wann Leben denn nun eigentlich beginnt.

Die Entscheidung abzutreiben, ist immer eine schwierige Wahl zwischen ungewünschten Alternativen. Keine fühlt diesen Konflikt so heftig wie die schwangere Frau selbst, keine hat mit den Konsequenzen so hautnah zu leben wie sie - ob Trauer über die Abtreibung oder materielle und emotionale Belastungen jeder einzelnen Schwangerschaft und Geburt.

Ich komme hier zu meiner ursprünglichen Fragestellung zurück. Und bin überrascht, daß es noch Widerstand gegen alles obig Gesagte gibt. Prick läßt nicht locker. Seltsam, daß einige einfach nicht kapieren wollen, daß die Frau die Entscheidung treffen muß. Adoption

Einige meinen, daß die Alternative zur Abtreibung Adoption sei. Wenn allerdings die 1,6 Millionen Abtreibungen, die es jährlich in den USA gibt, nicht stattfänden, würde das bei weitem die Zahl der adoptionswilligen Familien - ca. eine Million - übersteigen. (Ich gehe großzügigerweise davon aus, daß keine adoptionswillige Familie ein Baby wegen Rasse oder Gesundheit ablehnen würde!). Die Gesellschaft hätte sich bald mit Zehntausenden verlassener Kinder auseinanderzusetzen, denn soviele adoptionswillige Familien mehr wachsen plötzlich nicht nach. Um die „Adoptions-Lösung“ zu unterstützen, schlage ich eine Art Pflicht-Adoption für jene mittleren und gehobenen Einkommen (aus deren Rängen sich die Lebensschützer rekrutieren) vor, die sie von der Steuer absetzen können. Das Finanzamt könnte abwägen und mit einem „kid pro quo“ belohnen.

Was mich angeht: sobald technologisch machbar, bin ich dafür, befruchtete Eier in Richter, Politiker oder Väter zu pflanzen, damit sie die Verantwortung einer Schwangerschaft endlich am eigenen Leib erfahren. Dann können sie meinetwegen auch darüber entscheiden. Gespannt bin ich auch darauf, wie die Bundesstaaten versuchen, mit öffentlichen Geldern 20 Wochen alte Föten in Brutkästen am Leben zu halten. Das meint das neue Missouri-Gesetz nämlich. Ich bin gerührt, all diese Leute zu sehen, die so viele Last auf ihre Schultern nehmen, um so viel Leben zu retten. Ich zweifle nicht im geringsten daran, daß sie später ebenso großzügig sein werden, wenn es um Kinderpflege und Jugendfürsorge oder staatliche Bildungsprogramme geht. Bis Neunmonats-Brutkästen wie geschmiert funktionieren, sollten sie aber jetzt schon ihre Generosität zeigen und Cash - oder entsprechend Zeit und Energie - jenen Kindern zukommen lassen, die heute schon leben - unübersehbar.

Marcia Pally ist freie Journalistin in New York; sie schreibt regelmäßig Kolumnen im Kulturteil der taz

The pleasure of translation was up to: Andrea Seibel