Die Zivilisierung der Macht

György Konrad über Reformen und Nationalstalinismus in Ost-Mitteleuropa  ■ I N T E R V I E W

taz: Jalta und die Nachkriegsordnung des geteilten Europas zerbricht. Du hast Dich im letzten Jahrzehnt intensiv mit der Überwindung der Teilung Europas beschäftigt. Der Zeithorizont für eine solche Veränderung hat sich rasant verkürzt. Welche Anforderungen und Zumutungen stellt diese doch sehr aufregende Zeit?

György Konrad: Das ruhig abbauen, was mit Jalta errichtet wurde, ohne sich in Nervosität drängen zu lassen. Viele glauben, Jalta müßte durch etwas Neues ersetzt werden, zu früh aber sollte das nicht geschehen. Es ist schon eine interessante Ambivalenz: Hier in Ungarn denken fast alle, von den Kommunisten bis hin zur Opposition daran, daß es schöner wäre, aus dem militärischen Bündnis herauszukommen. Aber man kann nicht plötzlich und einseitig aus dem Warschauer Pakt austreten.

Wie antizipieren die Intellektuellen diese Zeit?

Jalta war doch ziemlich einfach. Zwei Ordnungsmächte und kleinere Mächte, die sich konform verhalten, die Ordnung ernst nehmen mußten. Wenn sich jetzt diese Ordnungsmächte zurückziehen, dann kann es wieder zu Konflikten zwischen den kleineren Ländern und Nationen kommen. Die Intellektuellen haben die Aufgabe, friedliche Lösungen für die nationalen Probleme zu finden. Wir sehen im östlichen Teil Europas, wo es keine demokratischen Verhältnisse gibt, wie zwei Nachbarn grausam übereinander herfallen. Sie können einander würgen und töten, obwohl sie immer zusammengelebt haben.

Du hast den Intellektuellen immer die Aufgabe zugeschrieben, die Macht zu zivilisieren. Dies bedeutete doch, nicht in die Politik gehen, sondern als Gegengewicht zur Politik wirken. Immer mehr Deiner intellektuellen Freunde in Ost-/Mitteleuropa werden jetzt aber doch Politiker. Der Übergang vom Netzwerk der civil society als Instrument einer Zivilisierung von Macht hin in die Politische Klasse ist fließend geworden.

Das stimmt nur zum Teil. In Ungarn, vielleicht sogar in Polen, beginnt die jüngere Politische Klasse an der Macht so zu denken wie die Intellektuellen. Sie benutzt die Begriffe und Kategorien der politischen Demokratie. Es gibt keine chinesische Mauer mehr zwischen Intellektuellen und Politbürokraten in ihrer Denkweise, weil diese jüngere Politische Klasse, die an die Macht gekommen ist, ziemlich gut gebildet ist und dieselben Bücher liest wie die Intellektuellen. Das ist bereits eine Zivilisierung von Macht. Andererseits gibt es viele meist jüngere Intellektuelle, die eigentlich Mitglieder der Politischen Klasse sein könnten. Sozialwissenschaftler, Ökonomen, Soziologen, die auch daran interessiert sind, eine zeitlang als professionelle Politiker zu arbeiten, zum Beispiel als Abgeordnete. In Polen ist mein Freund Adam Michnik nicht nur Abgeordneter geworden, sondern auch Chefredakteur. Er gehört also zur Politischen Klasse. Es ist sicher, ein wichtiger Teil der Intellektuellen geht in die Politik. Aber ich glaube nicht, daß dieser Prozeß sehr weit gehen wird.

Ich denke aber noch viel mehr daran, daß diese Intellektuellen ein großes Opfer bringen werden. Sie sitzen vor einem Büroschreibtisch und können ihre eigene Arbeit nicht mehr fortführen. Schriftsteller, die bisher Dichter waren und heute politisch sprechen und morgen vielleicht Abgeordnete oder Minister sind, werden für eine Weile ihre schriftstellerische Existenz aufgeben müssen. Trotzdem wird auch zukünftig ein objektiver und für universale Werte engagierter Kommentar zu unserer Zeit noch eine gewisse Rolle spielen.

Du siehst also keine Probleme für das Netzwerk europäischer Intellektueller?

Ich werde kein Politiker. Und ich denke, dieses Netzwerk der Ideen bleibt, ist persönlicher Austausch und ein Austausch von gedruckten Wörtern. Das ist das Wichtigste.

Welche Erwartungen hast Du an die westeuropäischen Intellektuellen angesichts des Reformprozesses in Ungarn, Polen und der Sowjetunion?

Ich erwarte eigentlich eine größere Komplexität ihrer Denkformen. Heute und auch nach 1992 sollten die verschiedenen Teilidentitäten aufrechterhalten werden. Auch die EG sollte als ein größerer Rahmen wahrgenommen werden. Und: Europa auch bis zum Ural ist nur eine kleine Nase auf Eurasien. Es gibt diese konzentrischen Kreise und diese verschiedenen Ebenen des geopolitischen Bewußtseins. Es ist wichtig, langsam zu verstehen, wie man verbunden ist mit globalen Fragen. Eine globale Verantwortung für das Überleben der Menschheit ist und bleibt übrigens immer eine Aufgabe der Intellektuellen.

Schwemmt der Reformprozeß in Ungarn, in Polen jeden Rest von Sozialismus weg?

Bei uns kann man keine allgemeinen Prognosen machen. Wo der gesellschaftliche Prozeß der Demokratisierung nicht schon vor der Ära Gorbatschow begonnen hat, ist auch sein politischer Einfluß gleich Null. In der DDR, in Rumänien und der Tschechoslowakei gibt es keine Veränderungung. In Polen und Ungarn setzen sich die Reformen durch. Es war immer klar, daß diese Völker eine normale parlamentarische Demokratie haben wollten, und wir werden sie bekommen.

Und was ist mit der Ökonomie? Du warst doch immer auch ein Vertreter der Arbeiterselbstverwaltung?

Vielleicht wird die Ökonomie noch fünf, zehn Jahre lang problematisch sein. Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit... Aber, mir scheint, Länder mit einer dauerhaften und soliden politischen Demokratie können ihre Wirtschaftsprobleme auch irgendwie bewältigen. Die politische Demokratie ist im Übrigen ein Ziel in sich selbst.

In den 60er Jahren gab es Diskussionen über einen dritten Weg. Wird eine solche Diskussion wieder aufleben?

Ich sage nicht dritter Weg, ich sage dritte Lage. In der Frage der politischen Demokratie gibt es keinen dritten Weg. Natürlich können sich neben der parlamentarischen Demokratie verschiedene Formen von Selbstverwaltung und direkter Demokratie entwickeln. Sie stehen aber nicht im Widerspruch zur formalen politischen Demokratie.

Ich frage nach der Ökonomie. Wird sie sich unterscheiden von der westlichen kapitalistischen Ökonomie? Werden Elemente der Selbstverwaltung diese Ökonomien stärker prägen?

Es gibt kein Großkapital in Polen oder Ungarn. Es wird zu einer Verkleinbürgerlichung kommen, manches westliche Kapital wird kommen, ziemlich langsam. Möglicherweise werden die Manager langsam Kapitalisten. Trotzdem bleibt immer noch ein großer Teil des Kapitals im Staatsbesitz. Vermutlich wird neben dem Bildungsbürgertum ein Besitzbürgertum auftauchen. Aber, ein Besitzbürgertum ist irgendwie notwendig, wenn man eine solide Demokratie haben will und braucht.

Wie siehst Du, wie wird in Ungarn generell das Festhalten der DDR an der Teilung Europas gesehen. Beunruhigt das oder wirkt es beruhigend?

Eher beunruhigend, trotzdem nicht sehr gefährlich. Aber wenn zum Beispiel in der Sowjetunion Gorbatschows Kurs fallengelassen würde, dann könnten der tschechoslowakische und ostdeutsche Konservativismus noch gefährliche Ereignisse mit sich bringen, chinesischen Lösungen. Hoffentlich führen die riesigen Konflikte in der Sowjetunion, die nicht nur Nationalitätenkonflikte, sondern auch tiefe gesellschaftliche Klassenprobleme sind, nicht zum Verfall des Reformkurses. Bezüglich der DDR, der CSSR und Rümäniens muß man den neuen Begriff des Nationalstalinismus einführen. Von China bis Albanien sehen wir die Kräfte des Nationalstalinismus. Es ist möglich - obwohl sie von einander unabhängig sind -, daß diese Kräfte eine heilige Allianz eingehen, weil sie alle an der Unterdrückung der autonomen und demokratischen Kräfte in ihrer jeweiligen Gesellschaft interessiert sind. Gegen die demokratische Bewegung kann eine Husak-Ceausescu-Honecker-Allianz noch ein Faktor werden. Glücklicherweise sind das alles uralte Herren. Von ihnen wird kein ideologischer Furor mehr ausgehen.

Das Gespräch führte Max Th. Mehr; der 1933 geborene Konrad lebt als freier Schriftsteller in Budapest