KÜCHENSCHABEN

■ Shelley Hirsch und Tom Cora in der Küche

Das Telefon mit Adreßbuch liegt auf dem Boden, die Musiker stehen neben der Kochecke, Gewürze und Geschirr im Regal hinter ihnen. Ein Konzert in einer ganz normalen WG-Küche in einer Fabriketage in 36. Für Berlin ungewöhnlich, für die New Yorker Gäste fast wie zu Hause, dort spielen sie oft in Wohnungen und anderen Privaträumen, in „lofts“, auch an einem Ort mit dem Namen „The Kitchen“.

Für ein gemütliches Konzertessen ist es leider zu überfüllt, also setzt sich Shelley Hirsch in den Korbsessel und beginnt zu singen. Tom Cora streicht mit dem Bogen über sein Cello, es fängt ganz harmlos an. Nicht sofort die erwarteten Krach-Ausbrüche, man tastet sich langsam und bedächtig über Jazzpfade zum anvisierten Ziel. Shelley Hirsch improvisiert Sprechgesang mit Worten, die ihr gerade einfallen. Sie dehnt die Silben, zerhackt die Betonung, kitzelt einen Buchstaben in die Höhe, kiekst und quietscht, saust herunter und landet mit einem Satz im Keller. Ihr Frequenzbereich scheint unbegrenzt.

Tom Cora liefert Ergänzungen, erweitert das viersaitige Cello um ein Gummiband als Bass und eine Gitarrensaite oben. Er zupft, schlägt, kratzt und streichelt sein Instrument, dessen warmer Ton wunderbar zu Shelleys Stimme paßt. Sie werden zu einem verträumten Duo, doch bevor es kitschig wird, steht sofort einer von beiden bereit, um den anderen mit provokativer Dissonanz herauszufordern.

Shelley Hirsch behauptet von sich, sie sei die Person, die im Supermarkt zur Verkaufsmuzak singt. Vielleicht deshalb wird sie in den USA mit Laurie Anderson verglichen, was völliger Quatsch ist. Sie singt explosiver, und sie verzichtet glücklicherweise auf den massenwirksamen Meinungsverkauf. Sie macht keine Verbesserungsvorschläge für ein gescheitertes Gesellschaftsmodell, sie zerhackt Worte und damit deren Kontext.

Im zweiten Set ergänzt der Berliner Gitarrist Hans Reichel die beiden. Zu dritt zerschlagen sie noch mehr Porzellan, die Küche wird abgeräumt. Krach quillt aus jedem Teebeutel. Cora rennt raus, er will die Spaghetti vom Herd holen, ruft er noch. Das Telefon klingelt, der Hörer wird danebengelegt, der Anrufer dürfte Zeuge der heftigsten Kochgeräusche seit Erfindung des explodierenden Gasherds geworden sein.

Auszusetzen an der gemeinsamen Mahlzeit im nachhinein der vielleicht etwas zu schwere Hauptgang, es fehlte das Dessert zur Abrundung. Die Vorspeise war vorzüglich.

Wer Appetit auf mehr Genüsse dieser Art hat, sollte seinen Hunger heut abend im „Eiszeit“ mit Musik und Filmen von Elliott Sharp, Leah Singer und Ned Rothenberg stillen.

Andreas Becker

Siehe auch La Vie