EINFACH UND FROMM

■ Hofmannstahls „Jedermann“ in der K-W-G-Kirche

„Das Sinnspiel 'Jedermann‘ mit seiner zeitlosen Anklage gegen des Menschen Habsucht und Selbstgerechtigkeit, seine Genußsucht und Hartherzigkeit ist“, möchte Schirmherr W. Momper behaupten, „in Berlin am richtigen Platz.“ Der richtige Platz am richtigen Platz ist selbstredend „der wohl populärste Sakaralbau der Welt“, als den Geschäftsführer E. Schulz nicht den Jerusalemer Felsen- oder den römischen Petersdom, sondern die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche ausgibt, in welcher nun Hugo Hofmannsthals „Jedermann“ leben und, da ja ein Sinnspiel, sterben kann - in seiner 13.Berliner Inszenierung im übrigen, zum 133.ff-mal: „Jedermann“ jederzeit, als sei Berlin ein Oberammergau.

„Jedermann-Festspiele“ nennt sich das, hält zumindest „für den kultivierten Briefmarkensammler“ etwas „Auserlesenes“ bereit, ein „Briefmarkenheft“ nämlich in begrenzter Auflage, und kolportiert kargen Inhalt: Herr Jedermann weiß schon im 16.Jahrhundert um kapitalistische Bewegungsgesetze („Mein Geld muß für mich werken und laufen“, darauf sein treuer Gesell: „Weiß Gott, viel Geld macht klug“), agiert als unbarmherziger Despot, verpönt sogar die Ehe und hat zu sterben, in welchem Augenblick er von Freunden, Hab und Gut verlassen wird, und ihm nur der bedingungslose Glaube an höhere Gerechtigkeit bleibt: „Ich glaub - ich glaub“ ruft er da und: „Solange ich atme auf Erden, mag ich durch Christus gerettet werden.“ Das wird er auch, die Engel „in ihren himmlischen Reihn / lassen die arme Seele ein.“

Das Spiel ist also nicht nur, was ihm Max Reinhardt attestierte, der in Berlin 1911 die Uraufführung besorgte, „einfach und fromm“, sondern einfach dumm. Die Entsorgung etwaiger Skrupel all derer, denen es ebenso ergeht wie Jedermann, die also gleichfalls schwerreich sind, Menschen schinden und sterben müssen, erfolgt als doppelte: Sie alle sind nur blinde Funktionäre des Getriebes, unterliegen dem Diktat des Mammon, der sie „als Hampelmann recht brav am Schnürl tanzen“ läßt, und ihre Schuld besteht lediglich darin, dies verkannt zu haben. Ist der angehäufte Schuldenberg auf diese schicksalsmächtige Weise weitgehend abgetragen, so stehen für den Abbau restlicher sündiger Altlasten die Schwestern „Glaube und Werke“ bereit, jene gegen angemessene Reue aufzuwiegen und den Richtergott in einem formell freien Kaufvertrag übers Ohr zu haben, was im Falle Jedermanns reibungslos funktioniert.

Dieser zweifachen Freisprechung entspricht eine zweifache Wirkweise: Das Stück, deklariert als eines fürs Volk, gaukelt diesem die Herrschenden als arme Sünder wie jedermann vor, kennt keine Klassen mehr, sondern nur noch gleiche Schafe und gleiche Erlösung und ethisiert, indem es verhimmelt. Der Menge verhimmelter Arbeitgeber aber serviert es schmackhafte Gewissensbisse, sanften Schauer, wohlige Erregung in einer butterweichen Moral, die Lust eines zärtlichen Skrupels, der als folgenloser unversehens in Selbstmitleid umschlägt.

Vollends zum Nonsens gerät das „Sinnspiel“ allerdings unter der Regie von B. Grothum, die ihm ein erbarmungslos kritisches Präludium beschert: „Den nackten Verstand beten wir an als unser goldenes Kalb“, sagt da der eine, darauf die andere: „Gibt es eine Rettung?“ Zumindest gibt es ein der epochalen Frage angemessenes „Manifest für Jedermann“, verfaßt von Regisseurin und Organist, worin sich Plattitüden tummeln: „Ehrfurcht vor dem Leben“, „menschliche Hybris“, „Irrglaube“, „Fortschrittswahn und Konkurrenzangst“ addieren sich zu einem neuen „Glauben“ als einer „Anbindung an das Sein“ und preisen „die Logik der Rettung“ im „radikalen Wandel des Bewußtseins“.

Was die radikale Umwälzung der Verhältnisse in reinen Denksport aufhebt, das findet in der Kirche seinen richtigen Platz und in der dämonischen Aura des Kaiser-Wilhelm -Gedächtnisses klassengeschichtlichen Rückhalt. Bei Eintrittspreisen zwischen 17 und 70Mark verleihen die ebenso gute wie gut zu mißbrauchende Musik eines wehrlosen, weil längst toten J.S. Bach und die ausnehmend große Christusfigur über der Bühne, die dazu verdammt ist, auf jedermann geduldig-freundlich herabzusehen, denjenigen sakralen Flair, den die platte Propaganda bedarf, um Autorität zu werden. Sie bleibt aber, was sie ist, und was dem Gedächtnis an Kaiser Wilhelm entspricht: viel falsches Gefühl und wenig Geist.

Henning Daubert

Heute, 16 und 20Uhr wird „Jedermann“ ins atheistische Bruderland exportiert, Marienkirche, Ost-Berlin.