Basta!

Zu den sowjetischen Bergarbeiterstreiks  ■ K O M M E N T A R

Streik heißt im Russischen „Zabastobka“, abgeleitet aus dem italienischen „Basta!“ - Genug! Dieser Begriff benennt treffend die Gründe der gegenwärtigen Streikwelle. Der Streik der Bergleute, der am 10. Juli in Meschduretschensk begann und wie ein Flächenbrand bald alle wichtigen Kohleminen des Landes erfaßte, war Ausdruck des gemeinsamen Bewußtseins von der Notwendigkeit einer radikalen wirtschaftlichen und politischen Reformpolitik. Daran beteiligt waren nicht nur die Kumpels, sondern praktisch wohl alle abhängig Beschäftigten in den betreffenden Regionen. Dieser Streik hat die politische Lage in der Sowjetunion schlagartig verändert, weil sich die Konfliktlinien verschoben haben.

Es war ja keineswegs das erste Mal, daß Druck von unten auf die politische Spitze ausgeübt wurde - insbesondere die Nationalitätenfragen haben seit mehr als einem Jahr zu erbitterten Auseinandersetzungen an der Basis geführt. Im Baltikum wurden damit Freiräume für weitergehende Reformen geschaffen, doch sonst ist der Beitrag dieser Art von Konflikten zur Demokratisierung des Systems und zur sozialen Emanzipation der Beschäftigten keineswegs eindeutig. Wenn sich die Hauptform gesellschaftlicher Konflikte jetzt auf die Ebene sozialer Interessen verlagern würde, läge darin für die Reformer und für den Großteil der Bevölkerung eine enorme Chance: eine wirkliche Verbesserung der Lage des Einzelnen und damit aller kann nur auf dieser und auf der politischen Ebene erreicht werden.

Wie vorher schon die polnische Arbeiterschaft im Jahre 1980 haben die sowjetischen Arbeiter enorme Selbstdisziplin und waches Bewußtsein bewiesen. Ihr länger noch das Recht streitig zu machen, eigene Organisationen - statt der bürokratischen Pseudo-Gewerkschaften - aufzubauen, wird unmöglich sein. Sie würden sich das einfach nicht gefallen lassen, wie die Nichtauflösung der Streikkomitees jetzt schon beweist. Zugleich hat der neue Oberste Sowjet seinen ersten Härtetest bestanden: Vor den Augen des ganzen Landes sind Repräsentanten der Streikbewegung zu Wort gekommen und haben eingefordert, was aus ihrer Sicht allein eine Lösung der Krise bringen kann: ein Ende der institutionalisierten Führungsrolle der KPdSU und die Übertragung der Macht an demokratisch gewählte Sowjets. Die Sowjets, die einmal als revolutionäre Räte entstanden waren, dann aber über viele Jahrzehnte nur noch durch ihren Namen an diese basisdemokratischen Ursprünge erinnerten, könnten neuen Inhalt gewinnen, der an diese Geschichte anknüpft. Die Forderung nach vorgezogenen Wahlen zu den regionalen und lokalen Sowjets ist dafür ein deutliches Zeichen.

Den Herren im sowjetischen Establishment, die ihre Herrschaft mit Berufung auf die „revolutionäre Arbeiterklasse“ und die „Sowjetmacht“ zu verschleiern suchten, muß es angesichts der Perspektive, plötzlich beim Wort genommen zu werden, angst und bange werden. Sie würden sich auch ihre Macht- und Einkommensprivilegien nicht kampflos nehmen lassen, doch die Chancen, daß dieser Konflikt ohne Gewalt ausgetragen wird und das Volk den Kampf gewinnt, sind in den letzten zwei Wochen beträchtlich gestiegen. Der Streik ist jetzt ausgesetzt worden - nicht mehr. Nur ein politischer Narr könnte glauben, danach sei es möglich, so weiter zu machen wie bisher.

Walter Süß