„Wir wollen nicht Geschenke, sondern Perestroika“

Zum ersten Mal seit langer Zeit: Mit den Streiks der Bergarbeiter in der gesamten Sowjetunion zeigte sich das Selbstbewußtsein der Arbeiterklasse / Die Streikkomitees werden auch nach dem Ende der Streiks bestehen bleiben  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

„Heute ernährt sich das Sowjetvolk von Meetings und Streiks“, erklärte einer der Abgeordneten auf der Debatte des Obersten Sowjet am Montag. Der radikale Hunger der Bergarbeiter hat die Moskauer überrascht. Die von der Presse verschwiegene politische Tendenz des Streiks ist hier allen klar.

„Wir bitten nicht um Geschenkchen, sondern wir wollen die Beschleunigung der Perestroika“ - mit diesen Worten unterbanden die Arbeiter in Prokopjevsk Mitte letzter Woche den Verkauf von defizitären Waren wie Kaffee und Schokolade, die auf dem Höhepunkt des Streiks plötzlich in ihren Geschäften auftauchten.

„Im ganzen halte ich die Streiks und das Verhandlungsergebnis, mit dem sie beendet wurden, für einen großen Schritt nach vorn“, sagt der Soziologe Igor Tschubais vom Moskauer Parteiklub. „Die Bürokratie hat stark an Boden verloren. Da haben wir immer wie gebannt auf die Partei gestarrt und eine Änderung einzig und allein von deren innerer Umgestaltung abhängig gemacht - und jetzt haben die Arbeiter einfach die Macht ergriffen, die Partei umgangen und uns gezeigt, daß es auch so geht. Natürlich müssen die progressiven Kommunisten diesen Hebel trotzdem benutzen, um jetzt auch die Partei umzugestalten.“

Das Vertrauen in die Kompetenz der Streikkomitees ist auch in Moskau groß. „Das sind gestandene Leute, die wissen, worauf es ankommt. Sie hätten es niemals zu einer lebensgefährlichen Situation für das Land kommen lassen“, meint mein Nachbar, der selbst eine Zeitlang in der Region von Kemerowo als Ingenieur gearbeitet hat. Kein Gesprächspartner, der die Solidarisierung der Arbeiter nicht begrüßt. Der Taxifahrer, den ich in der Gorki-Straße anhalte, meint, die Streikenden hätten sogar Gorbatschow einen nützlichen Schubs nach vorn gegeben: „Vielleicht hat er nicht so sehr Angst gehabt, als nicht gewußt, was er dort konkret sagen soll. Was soll er denn schon auf die klassische Frage: 'Wo bleibt die Wurst?‘ antworten. Gorbatschow ist sicherlich ein guter und liberal denkender Mensch, aber er möchte, wie es bei uns heißt, daß die Wölfe satt werden und die Schafe trotzdem ganz bleiben. Das heißt, er will nicht zugunsten der Demokratisierung die radikalen Reformen in Kauf nehmen, die notwendig sind. Demgegenüber hat sich jetzt etwas artikuliert, was wir zum ersten Mal seit langer Zeit als Selbstbewußtsein der Arbeiterklasse bezeichnen.“

„Zum ersten Mal haben sich die Arbeitermassen, die immer vor Angst gefesselt waren, selbst gefunden“, meint auch Fedja, ein Journalistikstudent: „Und wenn wir diesmal nicht mit Panzern dorthin gefahren sind, wie seinerzeit in Nowotscherkassk, dann nicht, weil wir davon nicht genug hätten, sondern weil unsere Regierung entschlossen war, die Probleme anders zu lösen.“ Das Verhalten Gorbatschows wertet er differenziert: „Ich denke, wenn er dorthin gefahren wäre, hätte er dem Ganzen eine Bedeutung verliehen, die die Angelegenheit mit dem Erdbeben in Armenien auf eine Ebene stellt. Und dann wäre das ganze Land außer Rand und Band geraten, denn es hätte an allen Ecken und Enden geheißen: Soll er doch kommen und uns rausreißen. Schließlich haben die Stahlkocher von Magnitogorsk genauso Grund zum Streik wie die Bauern im Schwarzerdegebiet und die Eisenbahner. Sie alle müssen Bedingungen hinnehmen, für die sich jeder westliche Arbeiter bedanken würde. Natürlich hat bei uns die Presse nicht zufriedenstellend berichtet, weil sie noch nicht weiß, wie hoch sie die Grenzen der Wahrheit ziehen darf.“

„Freie Masseninformationsmittel für unabhängige Gewerkschaften sind notwendig“, rief am Montag abend der Deputierte Uoka. Die Forderung lag in der Luft, den Obersten Sowjet hat sie erreicht, nachdem nun nachträglich bekannt wurde, daß sich die offiziellen Gewerkschaften während der Streiks wahrlich nicht mit Ruhm bedeckten. Vertreter von informellen Arbeitervereinen aus 23 Städten, die sich letzte Woche in Moskau trafen, erörterten solche Gründungen.

Die Gewerkschaftsfrage ist sozusagen die ökonomische Kehrseite der zentrifugalen Machtverlagerung, die die Streiks mit sich gebracht haben. Das Kusbass-Gebiet soll schon zu Beginn des nächsten Jahres wirtschaftliche Autonomie erhalten, die Stärkung der örtlichen Sowjets ist die Folge. So ist es kein Wunder, wenn Gorbatschow in seinem Schlußwort in einem Atemzug mit einem Streikgesetz die Möglichkeit ansprach, durch eine Änderung der Konstitution den Republiken eine souveräne Gestaltung ihrer Wahlgesetze zu ermöglichen. Die Streikkomitees in den Bergbaugebieten bleiben bestehen, sie werden umbenannt, manchenorts mit der traditionsreichen Bezeichnung „Organ der Arbeiterkontrolle“. Um eine Doppelherrschaft zu umgehen, gibt es nur einen Weg: die Arbeiter politisch und wirtschaftlich zu den Hausherren zu machen, als die sie bisher nur proklamiert wurden. Dies formulierte am Montag der Deputierte Kolesnikow, und er fügte hinzu: „Und hat man je davon gehört, daß Hausherren streiken?“