Die dreckigste Atomanlage der Welt

Am 11. Oktober 1957 bimmelte nachts um 1.55 Uhr das Telefon des Polizeichefs von Cumbria. Der Anrufer, der „nie zuvor im Leben solche Angst“ hatte, forderte ihn auf, alle Vorbereitungen für einen Notfall zu treffen, wie ihn die Welt bis dahin nicht erlebt hatte. Hunderte von Polizisten wurden aus den Betten geholt, die umliegenden Krankenhäuser alarmiert, die Evakuierung einer ganzen Region vorbereitet.

Der Anrufer war Kenneth Ross, Direktor der Atomanlagen in Windscale, heute Sellafield genannt. Ross und sein Team hatten sich soeben für die letzte aller Maßnahmen entschieden, um ein seit drei Tagen tobendes Reaktorfeuer zu löschen: die Flutung. Niemand wußte, was passieren würde, wenn das Wasser auf das rotglühende Reaktor-Herz treffen würde. Doch Ross hatte keine Wahl. Die Schläuche wurden aufgedreht, die Männer sprangen hinter eine schwere Stahltür und warteten auf den Knall. Er blieb aus, das Atomzeitalter war an seinem ersten Supergau vorbeigeschrammt.

Das Feuer von Sellafield blieb bis Tschernobyl das schwerste Unglück in einer Atomanlage. Die freigesetzte Strahlung von 376.000 Curie entsprach dem Tausendfachen der Menge, die 1979 beim Unfall im US-amerikanischen Harrisburg entwich. Es dauerte 30 Jahre bis die britische Regierung am 1.Januar 1988 den offiziellen Untersuchungsbericht und damit die volle Wahrheit über den Reaktorbrand veröffentlichte. „Die Veröffentlichung würde all jenen Munition liefern, die an der Entwicklung und Zukunft der Atomkraft zweifeln“, lautete die Parole der MacMillan-Regierung im November 1957. Die regierungsamtliche Verschleierung des Unfalls setzte Maßstäbe und blieb bis heute das Markenzeichen des Atomkomplexes Sellafield.

Babys mit Trisomie 21

26 Jahre später, im November 1983, veröffentlichten die Ärztinnen Patricia Sheehan und Irene Hilary eine Arbeit über die Spätwirkungen des Sellafield-Unfalls. Sie berichteten über eine auffällige Häufung von Babys mit Trisomie 21 (Down -Syndrom) in dem irischen Städtchen Dundalk. Von den 213 Schülerinnen, die Ende der 50er Jahre die Schule in Dundalk besucht hatten, brachten sechs ein Kind mit Trisomie 21 auf die Welt. Die Mütter hatten alle im Oktober 1957, zum Zeitpunkt des Reaktorbrandes in Sellafield, eine unerklärliche grippeähnliche Erkrankung. Da die radioaktive Wolke an die irische Ostküste getrieben wurde und dort schwere Regenfälle die strahlende Fracht auf die Erde brachten, vermuten die Wissenschaftlerinnen, daß der Atom -Unfall die Ursache für die Mißbildungen war. Eine erhöhte Zahl von Babys mit Trisomie 21, von Leukämie und seltenen Krebserkrankungen ist an der irischen Ostküste mehrfach festgestellt worden, schreiben Sheehan und Hilary.

Sellafield ist bis heute einsame Spitze. Sie ist nicht nur die größte und eine der ältesten Atomanlagen weltweit, sondern auch die dreckigste. Diese Spitzenstellung wurde sogar regierungsamtlich bestätigt: „Großbritannien leitet mehr Radioaktivität in das Meer ein als jede andere Nation. Sellafield ist die größte Quelle radioaktiver Verschmutzung auf der Welt, und als Ergebnis davon ist die Irische See das am stärksten belastete radioaktive Gewässer der Welt.“ So steht es in dem Bericht, den der Umweltausschuß des Unterhauses im März 1986 über die Atomanlage vorlegte. Sellafield, so heißt es weiter, sei „zum Synonym für das schmutzige Ende der Atomindustrie“ geworden.

Die wichtigsten Merkmale der Firmengeschichte seien Irrtümer und Fehleinschätztungen, Geheimniskrämerei und Vertuschungen durch die Betreibergesellschaft British Nuclear Fuels (BNFL) mit ihren 6.000 Beschäftigten. Der Kommissionsbericht, der nach einer Serie von drei schweren Unfällen angefordert worden war, verlangte, daß die britische Regierung die Ausbaupläne für Sellafield aufgeben sollte. Vergeblich.

Der 1978 begonnene Ausbau des Atomkomplexes, der zusätzliche Kapazitäten zur Wiederaufarbeitung von 1.000 Tonnen Reaktorbrennstoff im Jahr schaffen soll, wurde fortgesetzt. Die neue Anlage THORP wird dabei nur zu 30 Prozent national ausgelastet. Der überwiegende Teil der abgebrannten Brennelemente kommt aus der Bundesrepublik, aus Japan, Schweden, der Schweiz und Italien. Mit dem Erweiterungsbau wird Sellafield endgültig zum radioaktiven Mülleimer der Welt und die Irische See zu ihrem maritimen Notausgang.

Schon heute fließen täglich mehrere tausend Tonnen radioaktiv belastete Abwässer über einen direkten Kanal ins Meer. Im November 1983 mußten 40 Kilometer verseuchter Strand gesperrt und bis zum Frühjahr 1984 Bade- und Fischereiverbote erlassen werden. In der Nordsee bis hoch nach Skandinavien schwimmt kein Fisch mehr, in dem sich die radioaktiven Nuklide aus Sellafield nicht zweifelsfrei nachweisen ließen.

„A-leak-a-week-factory-of-horror“ - die Jede-Woche-ein-Leck -Horrorfabrik - taufte Albert Reynolds, energiepolitischer Sprecher der irischen Partei Fianna Fail, den Atomkoloß von Cumbria. Unzählige Male hat die irische Regierung, zuletzt gemeinsam mit dem Europa-Parlament, wegen der vielen Unfälle die Schließung des Atomkomplexes gefordert. Umsonst.

Die Geschichte von Sellafield ist die Geschichte ihrer Pannen und Leckagen. Inzwischen sind von August 1950 bis heute mehr als 300 Unfälle dokumentiert. Die Begriffe „Contamination“ (Verseuchung), „Exposure“ (Verstrahlung) und „abnormal“ ziehen sich wie ein roter Faden durch Jahre und Jahrzehnte. So regelmäßig wie die radioaktiven Gase strömten die staatlichen Untersuchungskommissionäre aus und kritisierten Mißmanagement, Sicherheitsverstöße und Desinformation: „Das Gesamtbild entspricht vergangenen Versäumnissen“, hieß es schon 1981 resignierend in einem Bericht der Überwachungsbehörden. Und: „Unsere Untersuchung erbrachte den Nachweis, daß man aus den Ereignissen der Vergangenheit nichts gelernt hat.“

Plutonium für die Militärs

Die vielen Kommissionen konnten wenig ausrichten. „Keine Regierung kann es sich leisten, die 170.000 Arbeitsplätze, die von der Atomindustrie abhängen, zu vernichten“, sagte BNFL-Sprecher Jake Kelly stolz bei einer der vielen Führungen durch den Atomkomplex im vergangenen Jahr. Mehrere 100.000 Besucher werden jährlich durch den Atompark geschleust, von der Metzger-Innung bis zum Kaffeekränzchen. Über die militärische Bedeutung der Anlage erfahren sie allerdings nichts. Sellafield hat bis heute nicht nur 500 Tonnen Plutonium in die Irische See eingeleitet, sondern auch eine unbekannte Menge des Bombenstoffs den Militärs geliefert. Und nicht nur den britischen: Nach „Greenpeace„ -Recherchen sind 6,5 Tonnen Plutonium zur Bestückung von Atomsprengköpfen in die USA exportiert worden.

Wirklich unter Druck gekommen ist Sellafield nicht durch Bomben und Kommissionen, sondern durch eine Fernsehsendung. Der Report über die „Atomwäscherei“ von Sellafield zum Jahresende 1983 riß die Opfer des Atomalltags erstmals aus ihrer Anonymität. Mit dem Geigerzähler war das Fernsehteam durch die Wohnzimmer der Anlieger spaziert, hatte Plutonium im Staubsaugerbeutel, im Sand und Schlick aufgespürt. Und es hatte mit den Müttern und Kinder derjenigen Familien gesprochen, in denen Leukämie und andere Krebsfälle auftreten. Erregte Menschen saßen auf rosa Plüschsesseln und berichteten über Krankheit und Tod ihrer Liebsten.

Der Fernsehfilm schockierte die britische Öffentlichkeit. Die Atomgemeinde tobte. Und die britische Regierung? 24 Stunden nach der Ausstrahlung trat sie zusammen und ... setzte erneut eine Untersuchungskommission ein.

Manfred Kriener