ZEIT DER TRÄNEN

■ Das Drama der 70er Jahre auf dem Land

Punk kannte natürlich niemand. Man hörte Supertramp, jene Band, die die verzweifelt-sehnsüchtige Seelenlage der fortgeschrittenen Landjugend, die weg wollte, aber nicht wußte, wohin, so recht auf den empfindlichen Punkt brachte. Vermasselter Aufbruch durchzog alle Ackerfurchen. Die etwas Älteren, die man mit prächtigen Matten kannte, waren mittlerweile beim Bund gewesen und trugen nun schmachvolle Kurzhaarschnitte, wofür sie - um die Erniedrigung vollständig zu machen - von allen Erwachsenen mit Lob beschmissen wurden.

„So richtig schick siehste jetzt aus“ - Triumph der Rüpel. Dahin die glanzvollen Zeiten, wo sich die Dorfrebellen heimlich im Holzschuppen zum Joint (Scheunt) trafen. Bis zum Einberufungsbescheid waren alle Zerschlagungsversuche in die Binsen gegangen. Eines Tages zum Beispiel ritt unser Kirchenvorstand eine schwere Attacke gegen seinen mißratenen Sohn, ließ es gleichsam zum Amargeddon* im Kaff kommen, was damit endete, daß er die Plattensammlung des Verlorenen aus dem ersten Stock auf den Hof feuerte. „Geht dieser Lärm nicht noch lauter?! Negermusik, Negermusik...“ Unvergessen, wie der derart Gemaßregelte unbeeindruckt lächelnd die Tür verriegelte und eine neue Platte mit Kralmusik zückte. Danach avancierte er unwidersprochen zum Dorfjugendhelden schlechthin.

Doch das Establishment war lernfähig. Zu Weihnachten gab's überall Kopfhörer, womit die Alten eindeutig beweisen, daß sie die Taktik der repressiven Toleranz fabelhaft begriffen hatten. Die Kopfhörer waren ausgesporchen groß und erinnerten eher an importierte Ohrenschützer aus Alaska. Überhaupt war alles groß in den 70er Jahren, vor allem die Anlagen, die technischen Geräte also, welche man benötigte, um die mit Musik identifizierten Gefühle der ganzen Nachbarschaft mitzuteilen. Die Drehknöpfe mußten handtellergroß sein, und Lautsprecherboxen waren nur in Metermaßen diskutabel.

Damit wurde im folgenden die einsetzende Fetenwelle beschallt, wo hauptsächlich Amselfelder (schön billig), Sangria (schön süß) und Persico (schön knallig) die Runde machten. Persico (von Liebhabern auch perversico genannt) wurde später aufgrund seines Blausäuregehalts verboten, was einigen Jammer hinterließ. Unentbehrlicher Bestandteil der Feten waren die Matratzen, die in den leergeräumten Zimmern/Schuppen/Scheunen auf dem Fußboden verteilt waren, meist akurat an der Wand lang. Auf ihnen saß man und redete oder redete.

Von den Sexorgien, welche die Stammtische des „Gasthauses zur Post“ ausgemacht hatten, fehlte jede Spur. Es war die Zeit der großen Ausschüttungen: Tränen, Liebe, Haß, Verzweiflung - alles kam heraus und zum Schluß der Persico. Als die Feten nicht mehr halfen, suchte man Konzerte auf, wo noch größere Anlagen rumstanden. Dementsprechend bemaß sich die Beurteilung der musikalischen Darbietung an den mitgeführten Sattelschleppern, mit denen die Gerätschaft transportiert wurde. Das kannte die Landjugend von der Heuernte: Je mehr Wagen, desto besser.

Wußte sich die Landjugend hier auf sicherem Terrain, so ahnte sie nichts von dem metropolitanen Guerillakampf für den Trikont, aber die RAF verstand es, auch auf dem Dorf Fronten zu schaffen. Meine Oma zum Beispiel zählte man zum harten Sympathisantenkern, wenn auch erst nach Überschreitung der 1,5-Promille-Grenze. So hatte sie zur Schleyer-Entführung eine sehr gradlinige Einstellung: „Soll'n sie es doch abknallen, das dicke, fette Bonzenschwein.“ Unsere Nachbarin hingegen (Kolonialwarenhändlerin, CDU-Mitglied, Mädchensportführerin) hatte einen Plan zur Befreiung Schleyers ausgearbeitet: „Jede Stunde eine Terroristen im Gefängnis töten.“ Wie wußte sie auch: „Einfach ausgehungerte Wölfe in die Zelle lassen“, womit sie ungefähr das Diskussionsniveau des kleinen Krisenstabes um Schmidt und Strauß erreicht hatte. Auch die Landjugend mußte sich nun unweigerlich entscheiden. Die einen machten sich mit den Stammtischen gemein, die anderen kauften Palästinenser-Feudel.

Als das mit der Tücherbewaffnung fehlschlug, gingen viele in die bäuerliche Idylle. Die Landkommunen vermehrten sich außerordentlich rasch, und bald war schon kein Bauernhof mehr erschwinglich. Nach anfänglichen Hindernissen (das Pflügen mit dem Pferd gestaltete sich schwieriger als erwartet), errangen die Landkommunen späterhin die Anerkennung der alteingesessenen Bevölkerung. Einige schafften es sogar, zu beliebten Brotlieferungsbetrieben (selbstgebacken im eigenen Ofen) aufzusteigen. Andere hingegen scheiterten daran, daß sie nur kiffen wollten und nicht arbeiten. Gänzlich ohne Geld sahen sie sich im Winter gezwungen, den halben Bauernhof im Kamin zu verfeuern, um nicht zu erfrieren. Das gab ihnen während eines lichten Moments zu denken, und so faßten sie den Entschluß, im Frühjahr nach Portugal zu ziehen. Der Bauwagen aber stürzte irgendwo in Hessen die Böschung runter, und es wurde dann nix.

Sie kifften also weiter, so wie es alle taten. Sogar kreuzbravdämliche Arzttöchter sogen regelmäßig an der rumgereichten Tüte und pafften den mundvoll Rauch wie weggetreten in die Gegend. Was tat man nicht alles, um auf der Höhe der Zeit zu sein. Eine der härtesten Proben war das stundenlange Teeschlürfen (parfümierten auch noch) - die Mädchen trugen dazu wallende Indiengewänder mit kleinen Glocken am Saum, die Jungs längstgestreifte Maurer- oder Fischerden (Opahemden). Jesuslatschen und „Atomkraft? - Nein danke„-Buttons wurden geschlechtsübergreifend benutzt. Hernach wurde die schummrige Szenekneipe (mit echt altem Sofa) angesteuert, wo noch mehr Buttonträger hockten, ihre Käse-Schinken-Baguettes zerkauten und, befallen von notorischer Rammdösigkeit, auf das Ende der 70er Jahre warteten. Kurz danach gingen die Land-70er tatsächlich an ihrem unheilbaren Harmoniezwang zugrunde.

Heute erinnert nichts mehr an das fehlgeschlagene Jahrzehnt. Kaum ein Jugendzimmer oder eine Tapete ist erhalten geblieben. Es ist vorbei, daran ändert auch die permanent anrollende 70er-Jahre-Welle nicht, bei der bestenfalls falsche 70er produziert werden. Typisch für die blöden 80er allerdings, daß sich die Herren gleich auf das gräßlichste Accessoir der 70er gestürzt haben: auf die Koteletten nämlich.

Volker Gunske

*Finaler Entscheidungskampf zwischen Gut und Böse mit vom Menschen verursachten Ende. Vergleiche Johannes‘ „Apokalypse“. Ausführlicheres ist bei den Rosenkreuzern in „Demaskierung“ nachzulesen. Nach der Rosenkreuzerphilosophie hat die Schlacht von Amargeddon schon am 21.8.1953 begonnen und endet am 21.8.2001 mit der endgültigen, selbstverschuldeten Vernichtung der Menschheit.