: SEELENLANDSCHAFT MIT BIER
■ „Die blöden Achtziger“ - Eine Kneipe und die Siebziger
Die Siebziger waren - und jeder, der auch nur einen Hauch vom großen Spannungsbogen zwischen K-Gruppe und Punk, Parker und Lederjacke mitbekommen hat, wird mir da zustimmen - sie waren ein vertracktes Jahrzehnt voller Hoffnungen, Widersprüchen und Resignation. Aber immerhin: es passierte etwas, wieder und wieder gab es Neuigkeiten, die man vorher nicht ahnen konnte. Während die Achtziger ja eindeutig als regressiv zu bezeichnen sind ( Reaktivierung entwicklungsgeschichtlich älterer Verhaltensweisen bei Abbau oder Verlust des höheren Niveaus) und deshalb ihren Namen „die blöden Achtziger“ zu Recht tragen.
Man nehme eine Institution, die ihre massenhafte Verbreitung erst in den Siebzigern erfuhr: die Szenekneipe. Damals: ein Ort der Geselligkeit. Das Mobiliar eher zusammen - denn ausgesucht, schwankend zwischen der Inneneinrichtung einer Wohnstube, die vom Proletariat auf den Sperrmüll geworfen wurde, und der lichten, gaulloise-gestützten-savoir -vivre-Atmosphäre, die vom Urlaub in Arcachon in die Heimat hinübergerettet wurde in Form von französischsprachigen Plakaten, Cafe au lait und Jacques Brel, obwohl der ja eigentlich aus Flandern kommt. Die Kneipe war für die Szene ein Ort der Gespräche, wie überhaupt die Siebziger das Jahrzehnt der Gespräche waren, Endlosschleifengespräche über Gott und die Welt, hauptsächlich auch über sich selbst: ich und die Beziehung, die Wohngemeinschaft, das Projekt, die Arbeits- oder sonstige Gruppe, usf. Die Kneipe: innerhalb der Szene gelegen, dennoch ein exterritorialer Ort, einer außerhalb von „ich und...“ gelegener Platz (es sei denn, man arbeitete im Kneipenkollektiv), in dem man gerade darum über all die Probleme (oh ja, ein Siebziger-Wort: „problematisieren“) des Ichs reden konnte. Und während man redend problematisierte, Probleme redend aus der Welt zu hebeln versuchte, lief im Hintergrund Musik, gerade so laut, daß man an einem großen, runden Tisch noch das Gegenüber verstehen konnte. Musik war wichtig: denn sie fing die Gesprächspausen auf, jene üblen, peinlichen Situationen, in denen man merkte, daß man sich a) entweder nichts zu sagen hatte, beziehungsweise b) etwas Tiefes zu sagen hatte, es aber nicht in Worte fassen konnte oder aber c) soviel über sich selbst zu erzählen hatte, daß man gar nicht mehr glaubte, die Person zu sein, über die man da in der ersten Person Singular redete. Wie dem auch sei: das Gespräch, die Musik, die Gespräche am Nebentisch, die Bedeutungsschwere von Plakaten, Liedtexten, Inneneinrichtung und so weiter verknüpften sich in der Szenekneipe zu einem ununterbrochenen Strom der Rede. Alles sprach zu einem, hatte etwas zu sagen; und mitten drin in dieser Konversationsmaschine war man es schließlich selber, der sie in Gang hielt.
Und heute? Ein Blick auf den Boulevard of broken BaFög, auf die autonome Vergnügungsachse Oranien - Wienerstraße und deren Zentrum, die Bolle-Gedächtnis-Brache und die anliegenden Kneipen genügt, um zu sehen, daß sich etwas verändert hat mit der Szenekneipe.
Nicht nur, daß sich die Kneipen- und Cafe-Szene weiter ausdifferenziert hat, es also gar nicht mehr die Szenekneipe gibt, sondern daß in dem Maße, in dem die Szene in verschiedene Subformationen zerfiel, die jeweiligen Subformationskneipen entstanden sind; sich, mit einem Wort, gleiche Interessen am gleichen Ort versammeln und damit die motzige Gaststube zum verlängerten Arm der Wohngemeinschaftsküchen wurde. Auch nicht nur, daß sich die Funktion der Inneneinrichtung wesentlich verändert hat: wo sie einst Ausdruck einer schrägen Seelenlage oder des richtigen Bewußtseins war, da soll sie heute Eindruck machen. Übrigens ein Vorgang, der sich in Schöneberg noch sehr viel rigoroser und darum deutlicher durchsetzt: während sich in Schöneberg die armen Schlucker aufmachen zum Als-ob der begnadeten Kontoauszüge, sich in die Schlange am neuen Reichtumsschalter anstellen, macht das Fluidum des Kreuzbergers Kudamms das Als-ob der Anarchie aus, die Möglichkeit der Revolte direkt neben dem Zapfhahn.
Da ist zum Beispiel diese Bar, die sich nicht mit dem Ausschank von Milch begnügt. Allem Anschein nach ein duster -metallischer Ort, der sich selbst in den Griff seiner Inneneinrichtung bekommen hat, überrascht durch ein kleines, fast unscheinbares Farbfoto, angebracht hinter der Theke: zu sehen ist das Bild einer brennenden Barrikade, wahrscheinlich erster Mai 1987 (die Bar liegt halt auch vis a vis von Ex-Bolle, Nachbarschaft verpflichtet). Fein signiert ist das Foto (Unikat?) und hat einen Titel: EbLT, was sehr sinnig ist. So ausgestellt, wird der Riot zur Erinnerung und Zeichen einer Geschichte, die noch so nahe ist, daß man sie hinter Glas bannen kann: das hätten wir erlebt, überstanden und Kunst daraus gemacht. Soviel Glück hat man nicht alle Tage.
Die bevorzugte Kleidungsfarbe der Gäste dieser Bar ist schwarz, allerdings nicht das Schwarz des autonomen Blocks, sondern das der Nacht und des kriselnden Subjekts zwischen Sein und Nichts, das gegen die laute Musik die legalisierte Existenz herausbrüllen muß.
Wenn man diesen Ort eine Bar nennt, dann ist das nicht ganz richtig. Denn eigentlich handelt es sich um eine Mischform von Bar und Diskothek. Eine Bar, weil als solche ausgerüstet: Theke, Barhocker, Tische und Stühle auf engem Raum. Eine Diskothek ob der Lautstärke der Musik. Man kann also weder miteinander reden, noch tanzen, im Grunde genommen nur: trinken, Musik hören, zwischendurch mal auf Toilette gehen. Deshalb überrascht es, daß auch hier die Anwesenden vom Drang beseelt sind, miteinander in die verbale Kommunikation zu treten. Denn das gute Gespräch ist auch in den ausgehenden Achtzigern nicht veraltet, in der Seelenlandschaft mit Bier wirkt dieses Erbe der Siebziger weiter fort, allerdings unter anderen Bedingungen. Insofern scheinen die Gäste nicht so modern und konsequent, wie es das Ambiente verlangt.
Zum guten Gespräch rückt man hier an den Partner heran und gibt in dessen Ohr stichrufartig Bericht von den tektonischen Beben in der eigenen Brust oder davon, wie man die letzten Tage so verbracht hat. Es liegt in der Natur der Sache, daß man sich nicht erklären, keine langen Begründungen geben kann. Kurze Slogans, die aus einem Lungenzug geschöpft werden, müssen genügen, um das Terrain des Berichts abzustecken. Unterhalb des Musikgetöses werden biographische Fetzen in den Raum geworfen, die vom anderen zusammengenäht werden müssen - das ergibt die Narben, die ein Leben hinterläßt und die sich langsam ins Gesicht hineinzeichnen.
Wo in den Siebzigern alles zum Reden gebracht wurde und miteinander einen Strom von Aussagen erzeugte, da diktiert heute der musikalische Rhythmus die Geschwindigkeit, in der aus dem vollen Herzen heraus der Mund überläuft. Man sollte sich also freuen, wenn sich in der Bar, von der hier die Rede ist, im letzten Jahr dieser Dekade der Kreis schließt, der in den Siebzigern angeknüpft wurde. Hier treffen sich die alten Langhaarigen, die den Punk überlebt haben, mit den Neuen Langhaarigen, die ihn nicht mehr erlebt haben, um der Musik zu lauschen, die in den Siebzigern hip war. Und reden genauso daher wie früher, nur auf dem nächst höheren Lärmniveau. Wie gesagt: ein regressives Jahrzehnt. Und bei gutem Wetter gehen sowieso alle vor die Türe, um ungestört ein Gespräch führen zu können: ich und...
Volker Heise
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen