Ödipus und der Apfel Gottes

■ Das Theaterfestival in Avignon: drei Eindrücke

Sabine Seifert

Alles wissen zu wollen, tut das gut? Mit Sicherheit tut es weh, sehr weh. So geht die Geschichte von Ödipus, der die Wahrheit über seine Herkunft und damit sein Unglück ans Licht der Aufklärung zwingt. Unschuld, Naivität und kindliche Freude gehen verloren, an ihre Stelle tritt Wissen, das den Menschen schuldig wie unschuldig zugleich mit der Welt verstrickt. Muß Ödipus wissen, was der blinde Seher Teiresias von ihm weiß? Daß er seinen Vater Laos getötet, seine Mutter Iokaste geheiratet und mit ihr Kinder gezeugt hat. Der Zweifel läßt ihm keine Ruhe. Will Ödipus wissen, was der andere weiß? Je mehr er sich dagegen wehrt, desto eher verfängt er sich. Es gibt kein Zurück aus dem Vorausahnen. Darum sticht er sich am Ende, als er alles weiß, die Augen aus. Vorher sehend blind gewesen, ist er nun ein blinder Seher wie Teiresias, dessen inneres Auge die Oberfläche der Welt nicht abmißt, sondern ihre Beschaffenheit erkennt.

So geht die Tragödie vom König Ödipus, wie sie Sophokles berichtet. Fast psychologisches, analytisches Theater, ein Psychodrama. Ödipus ist Therapeut und Patient in einem, der Untersuchungsrichter seiner eigenen Schandtaten. Er demontiert sich selbst. Ist zu Beginn der abgebrühte Politiker, der wie ein trainierter Manager im blauen Anzug gelernt hat, vor dem Volk Reden zu schwingen, ein offensiver und selbsteingenommener Typ; verliert im Laufe seiner Selbstanalyse die Beherrschung dieser Fähigkeit zur Blendung anderer und seiner selbst. So inszeniert Jean-Pierre Vincent, der im September die Nachfolge von Patrice Chereau als Leiter des Theaters Nanterre-Amandiers antreten wird, den ersten Teil seiner Trilogie namens Ödipus und die Vögel nach Sophokles und Aristophanes, für die er mit dem Übersetzer Bernard Chartreux zusammengearbeitet hat. Die Spielfläche befindet sich als langer, schmaler Streifen zwischen dem Publikum, das sich gegenüber sitzt. Der Boden ist sandig, enge Steine und zwei umgeworfene Stühle liegen herum. Unweit eine verrostete Wasserpumpe, die versiegt ist und erst Wasser gibt, als am Ende der Geschichte alles heraus ist. Von der Decke hängen umgedreht und zusammengebunden etwa 20 Stühle, an ihnen sind wiederum mit Nylonfäden Vögel besfestigt. Am linken und rechten Ende der cinemaskopartig in die Breite gezogenen Bühnenfläche befinden sich wie als Abgrenzung zum Rest der Welt Bauten: links eine Art Vogelhaus mit durchbrochenem Maschendraht, durch das die Bewohner von Theben schreiten, rechts der angedeutete Palast von Ödipus, der auf einer Erhebung steht und durch einen Säuleneingang gekennzeichnet ist. Ein fragmentarisches Dekor (Bühne: Jean-Paul Chambas), das Spurensuche im alten und neuen Griechland betrieben hat.

Auch Regisseur Jean-Pierre Vincent verfährt so. Trotz seiner dramaturgischen Konzeption, die sich ohne historisches Befremden in die Ödipus-Geschichte hineinbegibt, mangelt es seiner Bühnenfassung nicht an ironisch-aktualisierenden Akzenten. Denn Ödipus (Aurelian Recoing) inszeniert sein Polittheater und Psychodram auf der Empore des Palastes, Bühne seines Lebens, spielt Theater im Theater, das erst im Verlauf der Geschichte illusionsärmer und damit realistisch wird.

Seine Mutter-Gemahlin Iokaste (Evelyne Didi) - die stets im Schleier auftritt, wie um zu zeigen, daß Frauen in der Öffentlichkeit nichts zu sagen haben, vielleicht aber auch, um die Altersfrage zu umgehen - beschwichtigt ihn in seinen Zweifeln mit der durchaus komisch gesprochenen Bemerkung, er wäre nicht der einzige Mann, der davon träumen würde, mit seiner Mutter zu schlafen. Und der blinde Seher Teiresias braucht an seinem Stock eine Glühbirne, um durch die Welt zu finden; während die alten Krüppel und Kriegsverletzten aus dem Volk Thebens, die den auf fünf Männer reduzierten Chorus bilden, Gegenpol zum König Ödipus, Arm um Arm einen stummen Sirtaki des Widerspruchs vollführen.

Weiter als die damals scheinen wir heute auch nicht, scheint es zu heißen. Gemeinsam mit Ödipus auf Kolonos, ebenfalls von Sophokles, und der freien Aristophanes -Nachdichtung des Übersetzers Bernard Chartreux Die Stadt der Vögel, dem zweiten und dritten Teil der Triologie, soll auch König Ödipus im Herbst/Winter am Theater in Nanterre zu sehen sein.

Vincents Ödipus ist der Geheimtip auf dem Avingnoner Festival gewesen, das hitzezerlaufen seine großen Theatereignisse am späten Abend zu programmieren sucht. Wenn möglich draußen, wo der Wind weht, wie beispielsweise im Innenhof des Papstpalastes. Dort wurde auch das Festival mit der gespannt erwarteten Inszenierung von La Celestine eröffnet. Aber statt frischem Wind macht sich die dünne Luft der Langeweile des traditionellen, französisch -deklamatorischen Theaters breit. Obwohl Regisseur Antoine Vitez, Direktor der Comedie Francaise, des Nationaltheaters Nummer eins, zwei Stars wie Jeanne Moreau und Lambert Wilson für diese Inszenierung angeworben hat.

Das Bühnenbild von Yannis Kokkos reflektiert die mittelalterliche Weltanschauung - oben Himmel, unten Hölle, in der Mitte das Stufen nehmende Leben - des spanischen Autors von Le Celestine. Fernando de Rojas schrieb es Ende des 15.Jahrhunderts nicht für das Theater, sondern als Erzählung mit Dialogen, die im kleinen Kreis vorgetragen wurde. Auch die gekürzte Theaterfassung (Übersetzung: Florence Delay) behält die untheatralische Struktur des Textes bei, jeder Dialog gleich zwei Monologe. Es reden die beiden Protagonisten nicht viel miteinander, aber übereinander: Calixte (L.Wilson) und Malibee (Valerie Dreville), die zur Realisierung ihrer Liebe die Hilfe der Kupplerin und alten Dirne Celestine (J.Moreau) in Anspruch nehmen.

De Rojas Stück ist kein bürgerliches Drama, das die beiden Liebenden nicht zueinanderkommen läßt. Es stellt ihnen keine sozialen Hindernisse in der Weg und sendet auch keine anderen Schicksalsgötter aus. Die Personen dieser Liebesstory stehen sich selbst im Weg. Calixte stürzt tödlich von der Leiter, die in Melibees Garten führt, diese wirft sich daraufhin selbstmordend ihrem Vater zu Füßen.La Celestine ist eine Farce, die in einer vom christlich -jüdischen Glauben geprägten Welt zwischen Moral und Unmoral schwankt. Aber als sei nicht die Farce die als Unmoral verkleidete Moral selbst, schlägt sich Regisseur Vitez auf die anständige Seite der Geschichte und läßt am Ende in einem großen Abschlußmonolog wahre Vaterliebe über sinnliche Begierden siegen. So bekommt der Sündenfall biblische Ausmaße, dem höchstens eine Eva wie Jeanne Moreau gewachsen wäre. Doch auch die wirkt seltsam alterslos und schön, unnahbar und unerotisch zugleich, als hätte sie den Apfel am Stamm Gottes auf Geheiß von Vitez ganz verschlucken müssen, und als sei ihr der Appetit dabei völlig vergangen. Wie dem auch sei, die sexuelle Revolution muß mindestens so lange her sein wie die Französische.

Und die begeht in diesem Jahr ihren zweihundertsten Jahrestag (wie berichtet). Ausgerechnet der in der französischen Schweiz arbeitende DDR-Regisseur Matthias Langhoff flaggt zu diesem Anlaß blauweißrot mit Heiner Müllers Der Auftrag und Arthur Schnitzlers Der grüne Kakadu. Beide Autoren verbindet die Skepsis gegenüber revolutionären Gebärden, beide Einakter haben die Intention des entlarvenden Revolutionstheaters gemeinsam, das die Masken der Salonrevolutionäre lüftet.

Bühnenbilderin Katrin Brack hat ein Kneipenetablissement geschaffen, das es erlaubt, die beiden Stücke nahtlos aneinander zu fädeln und im selben Dekor gegeneinander zu kehren. Und auch die Schauspieler agieren in fast gleicher Aufmachung in beiden Stücken. Die brauchen sich nicht einmal umzuschminken: Die Sklaven der Müllerschen Kolonialhaltergesellschaft im Auftrag (es sind weiße Schauspieler, schwarz geschminkt) spielen die Adeligen, die im Antrieb der Selbsterniedrigung das Cabaret „Der grüne Kakakdu“ aufsuchen, wo ihnen gemeine Wahrheiten ins Gesicht gesagt werden. „Es war ein kurzer glücklicher Moment der Geschichte“, sagt Heiner Müller, der zur Inszenierung seines DDR-Freundes Langhoff nach Avignon gereist kam. Die Herren von einst sind - 1789 - die schwarzen Schafe von heute. Sie blöken im Chor und rufen „Vive la liberte“ wie alle die im „grünen Kakadu“ Anwesenden, die sich anläßlich der Erstürmung der Bastille verdutzt die Hand schütteln. Etwa so grotesk wie auf einer dieser vielen Revolutionsfeiern, die der französischen Revolution in ihrem Jubiläumsjahr 1989 gewidmet waren.