Arbeiterbewußtsein

■ „Kneipengespräche im Kaiserreich“, herausgegeben von Richard J. Evans

Verstaubt und vergessen stand sie seit Jahrzehnten im Magazin des Hamburger Staatsarchives - die Aktenreihe mit dem Titel Berichte ohne Wert. Daß sich hinter den Aktendeckeln in Wahrheit 20.000 handgeschriebene Spitzelberichte der Hamburger Politischen Polizei aus der Zeit zwischen 1892 und 1914 verbargen, wurde erst jetzt bekannt. Der britische Sozialhistoriker Richard J. Evans entdeckte diese sogenannten „Wirtschaftsvigilanzberichte“ der Beamten, die als Arbeiter verkleidet, fleißig die Gespräche in Arbeiterkneipen mitgehört und später aus dem Gedächtnis protokolliert hatten.

Um „geplante Zusammenrottungen und Aufläufe, wodurch die Sicherheit im Staate gestört werden kann“, schon im Ansatz zu erkennen, hatte die Polizeiführung ihre Männer maskiert an die Tresen der Hansestadt entsandt. Die Beschlüsse der politischen Führung Hamburgs wurden durch die detaillierten Stimmungsberichte der Spitzel mit den bezeichnenden Namen wie Graumann, Sackmann und Szymanski zwar kaum beeinflußt für die Historiker aber sind die jetzt entdeckten Berichte eine einzigartige Quelle, da bisher kaum jemand authentische Aussagen über Bewußtsein und Alltagskultur der Arbeiter im Kaiserreich zu präsentieren wußte. Ähnliche Funde aus anderen Städten sind bisher nicht bekannt.

Es sind nicht die Fragen, sondern die Antworten der lesenden Arbeiter auf die Politik der Obrigkeit und das Tagesgeschehen, die die über 300 ausgewählten Berichte präsentieren, die Richard J. Evans jetzt unter dem Titel Kneipengespräche im Kaiserreich herausgegeben hat. Viele der Gespräche am Biertisch sind originell, manche gar aktuell.

Etwa dann, wenn am Tresen der Wirtschaft Timm über die militärische Aufrüstung politisiert wurde und ein Gast bemerkt: „Es sei ja eben die Staatskunst, daß man sich des Vorwandes bedient, den Frieden aufrechtzuerhalten und den Völkern Sicherheit zu gewähren. Nun muß sich jeder sagen, daß man durch solche Mittel den Frieden niemals sichern kann.“ Daß ein Krieg verurteilt wurde, verhinderte andererseits obskure Ansichten über die moderne Technik nicht.

„Weil die Geschosse heute eine weit größere Durchschlagskraft besitzen, gehen sie durch mehrere Menschenkörper hindurch, ohne steckenzubleiben und gefährlich zu verletzen, wenn nicht gerade die edelsten Teile getroffen werden.“

Von Kaiser Wilhelm II erwarteten die meisten sozialdemokratischen Arbeiter wenig für die Besserung ihrer Lage, wenn sie auch, wie Evans schreibt, scharfe Kritik am Kaiser nur betrunken vorbrachten. Ein Zecher, der betrunken oder nicht - den eitlen Monarchen zu verteidigen suchte, wurde barsch abgefertigt. „Wenn du solchen Glauben hast, dann werde man auf diesem selig. Mein Kaiser ist Bebel !Adjüs Hein!“, rief ihm sein Gegenüber im Gehen noch zu.

Die Frauen und Männer, die in „Pesthöhlen“ wohnten und vermuteten, daß sie bald „noch Hunde und Katzen fressen müßten“, hatten gerade in Hamburg mit der Kirche äußerst wenig im Sinn. In der Kneipe lieferten sie die analytisch bestechende Begründung für den Spott auf das „Pfaffentum“: „Wie kann es möglich sein, auf der einen Stelle zu predigen, Jesus sei der Sohn Gottes und auf der anderen Stelle Josefs und Marias? Dies wiederspricht sich doch vollständig.“ Da glaubte man schon eher, „daß Jesu ein gescheiter Kopf war, der sich durch seine Praxis als Arzt viele Anhänger erwarb, was damals ja nicht alle und jeder konnte“.

Frauen blieben meist außen vor den Kneipen, in denen die Männer oft vehement über deren Stellung in der wilhelminischen Gesellschaft und im Arbeitsleben diskutierten. Heftig prallten hier am Tresen proletarische Antifeministen und aufgeklärtere Parteigenossen aufeinander. Während die einen schwadronierten, „daß es besser wäre, wenn die Frauen sich um ihre Wohnung bekümmern und diese in sauberem Zustande erhalten, damit wir die Cholera nicht wieder bekommen“, kanzelten die anderen sie eben damit ab, daß „man doch tagtäglich noch das Geschwätz vom Naturberuf der Frau, der sie ausschließlich auf die Häuslichkeit und die Familie hinweist“, ertragen müsse.

Besonderen Wert erlangen die Berichte aus den Kneipen dort, wo sie die gängigen Urteile der Historiker, die die offizielle Geschichte schreiben, widerlegen. Evans bemerkt, daß von dem oft zitierten, sogenannten „proletarischen Antisemitismus“ in den Berichten vom Tresen relativ wenig zu spüren ist. So bemerkte ein Arbeiter in der Wirtschaft Stolt pathetisch: „Für den Sozialdemokraten versteht es sich ja von selbst, daß er die Gleichheit aller will, was Menschengeist trägt.“ Ein anderer setzte die Worte weniger gestelzt. Mit der Faust knallte er auf den Tisch der ebenfalls in der Kneipe zechenden Antisemiten und brüllte sie an: „Ihr verfluchten Judenhetzer, für die Regierung, da geben sie alles zum besten, und ihren Nebenmenschen, den wollen sie vernichten!“ Eine erschreckende Ahnung im Jahr 1893.

Frei von jeglichem Rassismus waren die Arbeiter nach den Berichten der Spitzel jedoch nicht. Die Italiener waren für sie „geistig genau so weit herunter wie die Spanier“, und deutsche Arbeiter verrichteten nach Meinung deutscher Arbeiterköpfe ihre Arbeit schon damals besser als die „Polacken“.

Den imperialistischen Träumen vom „Platz an der Sonne“, den das Deutsche Reich für sich beanspruchte, stand man allerdings negativ gegenüber. Die Arbeiter in ihren Kneipen, die sich - nimmt man die Auswahl der Berichte als repräsentativen Querschnitt - in Sachen Weltpolitik als gut informiert zeigten, lehnten es augenscheinlich ab, die Unterjochung fremder Völker als große Politik beim Bier zu bejubeln.

Natürlich muß aufgrund der Kneipengespräche aus dem Kaiserreich die Geschichte der Arbeiterschaft nicht neugeschrieben werden. Das Bild von Arbeiterbewußtsein und Arbeiterkultur gewinnt jedoch neue Facetten, die gerade in ihrer Widersprüchlichkeit interessant erscheinen und generalisierende Aussagen kaum mehr zulassen. Repräsentative Bedeutung kann man den Berichten schon daher nicht absprechen, da zur damaligen Zeit ein Viertel der Mitglieder der gesamten Sozialdemokratie in Hamburg lebten. Die Polizeispitzel haben also dafür gesorgt, daß sich die „Objekte“ der Geschichtsschreibung - wenn auch unfreiwillig

-einmal selbst zu Wort melden können.

Jochen Arntz

Richard J. Evans (Hg.), „Kneipengespräche im Kaiserreich“, Rowohlt Verlag, 426 Seiten, Abbildungen, 18,80 DM