„Als zweites Wort lernten sie 'Nigger'“

■ Ein Gespräch mit der afro-amerikanischen Schriftstellerin Toni Morrison (geb. 1931) über ihren neuen Roman „Beloved“, die historische Bedeutung der Sklaverei und den Rassismus in der US-amerikanischen Gesellschaft der Gegenwart

'Time Magazine‘: In Ihren Romanen beschreiben Sie Zusammenstöße zwischen Schwarz und Weiß. In „Tar Baby“ sagt beispielsweise eine der Figuren: „Weiße und Schwarze sollten sich nicht gemeinsam an einen Tisch setzen oder überhaupt privat zusammenkommen.“ Sieht es nicht hoffnungslos aus, wenn wir die Abgründe, die Sie zwischen Geschlechtern, Rassen, Klassen sehen, nicht überbrücken können?

Toni Morrison: Ich persönlich bedaure die Art der Beziehung zwischen Schwarzen und Weißen. Die Schwarzen wurden in diesem Land immer als Puffer benutzt, um den Klassenkampf und andere gesellschaftliche Flächenbrände zu verhindern.

Ohne die Schwarzen wären die USA „balkanisiert“ worden. Die Immigranten hätten sich gegenseitig die Gurgel durchgeschnitten - wie sie es überall getan haben. Wenn die Einwanderer aus Europa Amerikaner werden, haben sie eines gemeinsam: Verachtung für mich. Es geht nur um die Hautfarbe. Sie können alle sagen: „So bin ich nicht.“ In diesem Sinne eignen sie sich, wenn sie Amerikaner werden, eine besondere Haltung an: Sie schließen mich aus. Dieser Ausschluß einte sie. Als sie vom Schiff an Land gingen, lernten sie als zweites Wort „Nigger“. Fragen Sie sie - ich bin mit ihnen aufgewachsen.

In der fünften Klasse war ein gewitzter kleiner Junge, der gerade angekommen war und kein Englisch konnte. Er saß neben mir. Ich war gut im Lesen und brachte es ihm bei, indem ich ihm vorlas. Ich erinnere mich genau an den Augenblick, als er herausfand, daß ich schwarz war - ein „Nigger“. Es dauerte sechs Monate, bis jemand es ihm erzählte, und von da an gehörte er dazu, das war seine Initiation.

Jeder Immigrant wußte, er würde nie ganz unten sein. Einer bestimmten Gruppe würde er immer überlegen sein - und zwar uns.

Was denken Sie über die Spannungen zwischen Schwarzen und Juden? Ist die antisemitische Rhetorik von Black Muslims wie Louis Farrakhan (Führer der Black-Muslim-Sekte „Nation of Islam„; Anm. d. Red.) mit ein Grund für den Bruch zwischen Juden und Schwarzen?

Farrakhan ist ein einzelner, ein einzelner Schwarzer. Warum ist kein Schwarzer wütend auf Meir Kahane (Gründer der Jewish Defense League, einer antiarabischen Organisation; wanderte 1971 nach Israel aus, wo er die militante Kach -Bewegung der jüdischen Siedler organisierte; Anm. d. Red.)? Viele Schwarze lehnen Farrakhan ab. Sie wollen nicht das Geringste mit ihm zu tun haben. Die Rechnung: „Ein Schwarzer alle Schwarzen“, geht nicht auf.

Aber manchmal haben Weiße das Gefühl, daß alle Weißen auf eine Stufe gestellt werden, obwohl unter ihnen vom Ku-Klux -Klan bis hin zum Heiligen alle möglichen Positionen vertreten sind.

Das haben Schwarze immer gewußt. Wir mußten Unterschiede machen zwischen euch, weil unser Leben davon abhängen konnte.

Sie haben einmal gesagt, Sie könnten sich nicht mit der Idee anfreunden, über die Sklaverei zu schreiben. Trotzdem sind die Sklaverei und ihre Auswirkungen Thema von „Beloved“, ihrem bei der Kritik erfolgreichsten Buch.

Ich habe mich fürchterlich gescheut, mich länger mit dem Thema zu befassen. Dann habe ich gemerkt, daß ich eigentlich keine Ahnung davon hatte. Und ich war erschüttert darüber, wie lange das Ganze eigentlich gedauert hat. 300 Jahre plötzlich ertrank ich in diesem Meer von Zeit.

Stellen Sie sich das mal vor: 300 Jahre. Das ist ja nicht wie ein Krieg, sondern das trifft Generation um Generation. Die Sklaven hatten den Status guter Pferde, und niemand will seinen Viehbestand vernichten. Und dann hatten sie natürlich den Vorteil, daß sie sich kostenlos reproduzierten.

„Beloved“ ist den 60 Millionen Opfern der Sklaverei gewidmet. Eine unfaßbare Zahl - ist die historisch belegt?

Einige Historiker haben mir erzählt, 200 Millionen seien gestorben. Die kleinste Zahl, die mir genannt wurde, war 60 Millionen. In Reiseberichten von Leuten, die auf dem Kongo einem wirklich breiten Fluß - fuhren, wird gesagt: „Wir kamen mit dem Boot nicht über den Fluß. Er war voller Leichen.“ Anstelle von Baumstämmen versperrten Körper den Fluß. Es sind viele Menschen gestorben, die Hälfte von ihnen auf den Schiffen.

Sklavenhandel damals war wie der Kokainhandel heutzutage. Er war zwar illegal, aber daran störte sich niemand. Stellen Sie sich vor, Sie bekommen 1.000 Dollar für einen Menschen. Das ist viel Geld. In diesem Land sind einige Vermögen so entstanden. Ich dachte, Beloved würde das unpopulärste meiner Bücher, weil es von etwas handelt, an das die Figuren sich nicht erinnern wollen. Ich will mich nicht daran erinnern, Schwarze wollen sich nicht daran erinnern, Weiße wollen sich nicht daran erinnern - sozusagen der Gedächtnisschwund einer gesamten Nation.

Sie haben neue Einsichten in den täglichen Kampf von Schwarzen vermittelt.

Ich habe versucht, Sklaverei als persönliche Erfahrung darzustellen. Beloved ist kein Buch über die Sklaverei als Institution. Es geht vielmehr um diese namenlosen Existenzen, die als Sklaven bezeichnet wurden.

Ich habe die Folterwerkzeuge benutzt, um die persönlichen Erfahrungen der Sklaven zu beschreiben. Ich wußte darüber Bescheid, weil sowohl Sklaven als auch Weiße sie in ihren Memoiren erwähnten. Es gibt da ein wunderbares Tagebuch der Burr-Familie, in dem es heißt: „Habe Jenny heute die Gebißstange angelegt.“ Das notiert ein vermutlich aufgeklärter Sklavenbesitzer ungefähr 19mal in sechs Monaten.

Ich stieß auf die Beschreibung einer Frau, die Glöckchen tragen mußte, so daß jede ihrer Bewegungen zu hören war. Es gab Masken, die Sklaven beim Zuckerrohrschneiden trugen. Diese Masken hatten zwar Löcher, aber darunter war es so heiß, daß die Haut sich löste, wenn man sie abnahm. Vermutlich sollten diese Dinger sie davon abhalten, das Zuckerrohr zu essen. Interessanterweise schränken all diese Vorrichtungen die Bewegungsfreiheit nicht ein, wie zum Beispiel die Gerätschaften in der Folterkammer. Die Sklaven mußten ja damit arbeiten. Erstaunlich. Es scheint mir, als sei die Erniedrigung der Schlüssel zum Kern der Erfahrung von Sklaverei. Schwarze hatten in jedem Augenblick von jedem alles zu erwarten. Wenn man zwei Meilen in eine Richtung lief, wußte man nie, ob man auf Quäker treffen würde, die einem zu essen gaben, oder auf Mitglieder des Ku-Klux-Klan, die einen töteten. Wenn du die Plantage verläßt, verläßt du nicht nur einen vertrauten Ort, sondern auch deine Familie.

Haben Sie Vorschläge zur Verbesserung des Klimas zwischen den Rassen?

Es ist alles eine Frage der Erziehung. Ich bin überzeugt, daß es überall auf der Welt Rassismus gibt, aber die Menschen wurden nicht als Rassisten geboren. Es geht mir also um den Rassismus, der ihnen beigebracht wird, und zwar in Institutionen. Alle können sich an den Moment erinnern, in dem ihnen zum ersten Mal klargemacht wird, daß ein Teil der Menschheit das andere verkörpert. Das ist traumatisch so, als ob ich Ihnen erzählen würde, Ihr rechter Arm gehöre nicht zu Ihrem Körper.

Wie soll man so etwas durchbrechen? Das Erziehungssystem und die Frage der politischen Führung stellen uns vor schwerwiegende Probleme. Aber wir haben nicht die Strukturen, uns die Bildung anzueignen, die wir brauchen. Niemand hat es soweit gebracht. Literatur von Schwarzen wird unter soziologischen Gesichtspunkten und aus Gründen der Toleranz gelehrt, nicht als ernst zu nehmende, eigenständige Form von Kunst.

Wie sehen Sie das Problem der Gewalt unter Schwarzen?

Schwarze sind Opfer eines enormen Ausmaßes an Gewalt. Ich kann dazu nur sagen, daß gegen Gewalt im allgemeinen etwas getan werden müßte. Ohne die Komplizenschaft derjenigen, die für Schulen und Städte verantwortlich sind, könnte das alles gar nicht stattfinden.

Das ist ein ziemlich schwerwiegender Vorwurf. Komplizenschaft würde bedeuten, daß die Bedingungen, so wie sie sind, akzeptiert werden.

Menschen haben die Fähigkeit, etwas zu verändern. Schulen dürfen nicht länger Sammellager sein, um aktive junge Leute von der Straße fernzuhalten. Sonst wären sie eine wirkliche Bedrohung, weil sie womöglich mehr wissen, mehr Energie haben und Weißen ihren Job wegnehmen könnten. Also dehnen wir die Pubertät möglichst lange aus.

Im Bereich der Erziehung, der Stadtplanung, der Sozialpolitik gibt es nichts, was für Schwarze ohne Konsequenzen bliebe. Und genau da liegt das Problem. Warum sollte man eine Stadt bauen, in der mehr Schwarze angesiedelt werden könnten? Sie zahlen doch keine Steuern. Warum sollte man die Kinder armer Schwarzer bei der Planung des Schulsystems berücksichtigen? Sie würden den Weißen die Jobs wegnehmen. Sie zahlen ja doch keine Steuern.

Viele Leute machen sich ernsthafte Sorgen, weil so viele junge Schwarze die Schule abbrechen.

Sie sind an diesen Jugendlichen nicht wirklich interessiert. Ich spreche jetzt nicht von denjenigen, die sich wirklich Gedanken machen. Aber wenn „die da oben“, die wir für alles verantwortlich machen, sagen: „Wir müssen die Schulen in Ordnung bringen“, oder: „Wir müssen Drogen legalisieren“, sorgen sie sich nur um ihr persönliches Wohlbefinden. Besteht die Gefahr, daß ich überfallen werde? Werden die Obdachlosen sich in meinem Viertel rumtreiben?

Sie glauben also nicht, daß es viele Leute gibt, die sich ernsthaft mit den dringendsten Problemen unserer Gesellschaft beschäftigen - und das nicht nur, weil sie Angst haben, auf die Straße zu gehen?

Doch. Aber ich sehe keine engagierten Angriffe auf die Mißstände. Ich sehe nur „Comic-Lösungen“. Natürlich kann ein Präsident Neues bewirken - er kann die Gesetzgebung der letzten 20 Jahre, die inzwischen demontiert wurde, wieder in Kraft setzen. Wenn behauptet wird, die neuen Gesetze hätten nichts gebracht, ist das so, als ob man eine Brücke über einen Fluß zu einem Viertel fertigstellt und dann sagt: Von hier aus kommst du nicht rüber.

In einem Ihrer Bücher beschreiben Sie junge schwarze Männer, die sagen: „Es ist uns zu schwierig, Schwarzer und gleichzeitig Mann zu sein.“ Sie sagen, daß sie sich dann nur noch dafür interessierten, schicke Kleidung zu tragen und hip zu sein, und ihrer Verantwortung als schwarze Männer nicht mehr nachkämen.

Ich habe gesagt, sie schnitten ihre Hoden ab und klebten sie sich auf die Brüste. Ich weiß nicht, wo ihre Verantwortung noch liegen sollte. Sie hatten nie die Gelegenheit, sich für die Verantwortung zu entscheiden. 60 Prozent der schwarzen Teenager in dieser Stadt sind arbeitslos. Was haben die für eine Wahl?

Das führt uns zu den Problemen der vielen Haushalte mit nur einem Elternteil und der Teenagerschwangerschaften. Sehen Sie einen Weg aus dieser sich weiterhin verschärfenden Misere?

Also, für mich bedeutet das alles keine Krise. Ich glaube nicht, daß eine Frau, die ihren Haushalt alleine führt, ein Problem darstellt, eine kaputte Familie repräsentiert. Das wird so wahrgenommen, weil man daran gewöhnt ist, daß ein Mann das Familienoberhaupt ist.

Zwei Elternteile können ein Kind auch nicht besser aufziehen als eins. Man braucht eine ganze Gemeinschaft alle -, um ein Kind großzuziehen. Es ist eine patriarchale Sichtweise, denjenigen für das Familienoberhaupt zu halten, der das meiste Geld nach Hause bringt, und zu glauben, daß eine Frau - und ich habe zwei Kinder allein großgezogen einem Mann irgendwie unterlegen sei. Oder daß ich unvollständig bin ohne den Mann. Das stimmt nicht. Die Kleinfamilie ist ein Paradigma, das nicht funktioniert. Es funktioniert weder für Weiße noch für Schwarze. Ich weiß nicht, warum wir daran festhalten. Die Kernfamilie isoliert die Menschen in kleinen Einheiten - sie brauchen aber einen größeren Bezugsrahmen.

Und die Teenagerschwangerschaften?

Alle unsere Großmütter waren Teenager, als sie schwanger wurden. Ob sie nun 15 oder 16 waren, sie führten einen Haushalt, eine Farm, sie gingen zur Arbeit, sie haben ihre Kinder erzogen.

Aber nicht all diese Großmütter hatten Alternativen. Diese Teenager von 15 oder 16 hatten keine Zeit, sich über ihre besonderen Talente und Fähigkeiten klar zu werden. Sie sind Babies, die Babies bekommen.

Ihre Kinder schränken sie nicht ein. Natürlich nehmen sie enorm viel Zeit in Anspruch. Aber wer organisiert sein Leben schon nach Fahrplan? Warum muß man die Schule mit 18 beenden? Sie sind keine Babies. Wir haben entschieden, die Pubertät auszudehnen - etwa bis zum Alter von 30? Wann hören die Leute auf mit dem Kinderkriegen? Sie wollen unbedingt Kinder bekommen, weil ihr Körper dazu bereit ist. Die Natur will es dann, wenn der Körper es mitmacht, nicht erst dann, wenn sie über 40 sind, wenn das Einkommen es mitmacht.

Sie glauben also nicht, daß diese Mädchen etwas verpassen, ohne es zu wissen; daß sie beispielsweise hätten Lehrerinnen werden können?

Sie können Lehrerinnen werden. Sie können Gehirnchirurginnen werden. Wir müssen ihnen helfen, Gehirnchirurginnen zu werden. Das ist meine Aufgabe. Ich will sie alle in den Arm nehmen und sagen: „Dein Baby ist ganz wundervoll, Honey, und du bist es auch, du kannst es schaffen. Und wenn du Gehirnchirurgin sein willst, sag mir Bescheid - ich werde mich um dein Baby kümmern.“ So sollte unsere Lebenseinstellung aussehen, aber das ist uns zu anstrengend.

Ich glaube nicht, daß sich jemand Sorgen macht um unverheiratete Mütter, wenn sie nicht schwarz sind - oder arm. Das ist keine Frage der Moral, sondern eine des Geldes. Nur darauf kommt's uns an. Es ist uns ganz egal, ob sie Babies haben oder nicht. Übersetzung: Annette Schlichter

Aus: 'Time Magazine

vom 22.5. 198