Vom Mythos der Arbeiterbewegung

■ Theo Pirker über Pirker - oder: Braucht auch die Linke eine Historikerdebatte? / Von links bis rechts galt der Autor als Nestbeschmutzer

Nur relativ wenigen ist der Name Theo Pirker ein Begriff. Das steht in einem gewissen Gegensatz zur Bedeutung der Arbeit dieses Mannes für das Denken der westdeutschen Nachkriegslinken. Der SP-Verlag bringt jetzt mit dem Buch Theo Pirker über Pirker* ein Gespräch von Martin Jander mit Theo Pirker über dessen Wirken sowie seine politischen und soziologischen Vorstellungen heraus. Jander ist ein zeitgeschichtliches Dokument gelungen, so wünschenswert es auch wäre, daß er an der einen oder anderen Stelle hartnäckiger nachgefragt hätte.

Pirker, bis zu seiner kürzlichen Pensionierung Professor für Soziologie an der FU in Berlin, war einer der bekanntesten Agitatoren gegen die Wiederbewaffnung. Als Gegner des Industriegewerkschaftskonzepts kämpfte er für den Aufbau der Gewerkschaftsorganisation als öffentlicher Verband mit dem Industriebetrieb als Zentrum. Dieses Konzept sah vor, daß sich die Gewerkschaften nicht nur auf Tariffragen kaprizierten, sondern sich politisch und organisatorisch auf die direkte politische Einflußnahme in den Parlamenten, Sozialversicherungen etc. ausrichteten. Ab 1953 arbeitete er unter Victor Agartz, dem damaligen „Chefideologen“ des Deutschen Gewerkschaftsbunds am Wirtschaftswissenschaftlichen Institut (WWI) des DGB - Agartz war Leiter des WWI -, als Referent für Soziologie und dessen Ghostwriter. Pirker und Agartz waren gegen das sozialpartnerschaftliche Mitbestimmungskonzept und für demokratische Kontrolle der wirtschaftlichen Macht durch Beauftragte der Gewerkschaften. Darüber hinaus strebten sie die Neuordnung der Grundstoffindustrie an. Sie wollten vergesellschaftete Selbstverwaltungsunternehmen mit Eigenverantwortlichkeit und keine verstaatlichten Betriebe. 1956 wurde Pirker im Zusammenhang mit einem dubiosen Hochverratsprozeß gegen Agartz, über dessen Hintergründe er auch im Gespräch mit Jander genaue Auskünfte verweigert, entlassen.

Schon in den fünfziger und sechziger Jahren griff Pirker Themen auf, die später von der Linken häufig samt seinen Thesen übernommen wurden, ohne ihren Urheber zu nennen. Ein Beispiel ist seine Kritik an der Entstehung der BRD und deren Verfassung. Stichworte hierzu sind: „Verordnete Demokratie“, „Kanzlerdemokratie“, „Monopolisierung der Politik durch bürokratische Parteiapparate“, „Einrichtung von SPD und Gewerkschaften im autoritären Staat“ etc. Darüber hinaus veröffentlichte Pirker Reflexionen über Bedingungen und Chancen außerparlamentarischer Oppositionsbewegungen. Von ihm stammt die These von der Entwicklung der Gewerkschaften zum reinen Versicherungsbetrieb (1965) wie auch die vom Ende der Arbeiterbewegung (1978).

Durch die Veröffentlichung der Bücher SPD nach Hitler und Die Moskauer Schauprozesse machte sich Pirker bereits Mitte der sechziger Jahre bei der westdeutschen Linken unbeliebt. Im ersten Buch vertritt er, daß der Schumachersche Antikommunismus die SPD daran hinderte, Stalins Offerten bezüglich der Deutschlandfrage politisch aufzugreifen. Im zweiten veröffentlichte er als erster die Protokolle der stalinschen Vernichtungsprozesse, auf die er zufällig in der Schweiz gestoßen war. Von nun an galt Pirker von ganz links bis zum rechten Rand der Sozialdemokratie als Nestbeschmutzer, dem keine Leiche im linken Keller heilig war. Dies ist wahrscheinlich auch ein Grund für den ihm zumindest faktisch auferlegten Zitierboykott.

Neben diesen politischen Büchern und vielen Reisen quer durch die Welt forciert Pirker nach seiner Zeit am WWI wieder die industriesoziologische Forschung. Durch zusammen mit Burkart Lutz und Siegfried Braun durchgeführte Forschungsprojekte in der Stahlindustrie hatte er bereits einen Namen als Industriesoziologe. Jetzt galt seine Aufmerksamkeit der Büroautomation. Aber über die Soziologie hinaus hatten seine Arbeiten nie die Öffentlichkeit, die sie verdient hätten. Bereits 1962 bis 1963 polemisierte Pirker, unter anderem gestützt auf empirische Untersuchungen und seine praktischen Erfahrungen als ausgebildeter Verwaltungsangestellter, gegen Max Webers These von der Rationalität der Verwaltung. Er weist nach, daß es Unsinn ist, Bürotätigkeit nach tayloristischen Konzepten organisieren zu wollen. Im Büro würde Information verarbeitet. Rationalisierung müßte dort deshalb auf die Optimierung des Informationsflusses und nicht auf die Minimierung des für die Einzeltätigkeit notwendigen Zeitaufwands zielen. Eine praktische Konsequenz daraus sei beispielsweise Mischarbeit in kleinen Arbeitseinheiten anstatt zentraler Schreibbüros. Ähnliche Positionen hat Pirker auch zur Industriearbeit entwickelt. Heute, mehr als zwanzig Jahre später, kommen Management und auch die Gewerkschaften vor dem Hintergrund mikroelektronisch basierter Automation zu fast denselben Einsichten.

Pirker kritisiert, daß die deutschen Gewerkschaften nicht nur das politische Vakuum von 1945 zu nutzen versäumten, sondern auch die Bedeutung der Frage konkreter Gestaltung von Arbeitsorganisation und Technik für die betriebliche Politik nie begriffen hätten, auf den planenden Zugriff auf die Produktion verzichteten und sich statt dessen fast ausschließlich damit begnügten, auf intermediärer Ebene tarifierbare Lohn- und Leistungsfragen zu regeln. Daher stamme die Immobilität und Inhaltsleere ihrer konkreten betrieblichen Politik.

Janders im Gespräch entfaltete Pirker-Biographie ist eine immer interessante, über weite Passagen sogar spannende Lektüre. Dies gilt auch für Pirkers Auseinandersetzung mit Marx, Weber und der kritischen Theorie, die hier nicht ausführlich dargelegt werden können, sowie für seine Berichte über Kooperation und Streit mit großen Teilen der linken Intelligenz Westdeutschlands, darunter auch Habermas und Adorno. Letzterer hatte ihm trotz heftigster theoretischer Gegnerschaft mit einem Lehrauftrag in Dakka versorgt, als beim WWI nichts mehr ging.

Pirker breitet im Gesräch mit Jander teilweise in einer Offenheit die Begründung seines Denkens und dessen Wurzeln aus, daß linke Identität schwerlich unangekratzt die Lektüre dieses Buches übersteht. Der pathetische Titel des Vorworts: „Theo Pirker: Taten und Untaten - donnernde Erkenntnisse“ deutet darauf hin, daß Autor Jander davon ebenfalls nicht unberührt blieb.

Pirker ist in einem katholischen und kommunistischen Elternhaus in München aufgewachsen. Im Zweiten Weltkrieg war er hochdekorierter Fallschirmjäger und wurde mehrfach verwundet. Seine Familie charakterisierte er als der „Arbeiteraristokratie“ zugehörig. Der Vater war Meister. Familie Pirker kaufte nicht beim „Konsum“ wie die Proleten des Stadtteils. Darauf verweist Theo bis heute nicht ohne Stolz. Hier scheint er auch gelernt zu haben, jene zu verachten, die an der Spitze stehen, sei es der Generalstab, der Papst oder der Generaldirektor, und in der mittleren Führungsebene den Dreh- und Angelpunkt jeglicher sozialer Organisation zu sehen.

Max Weber hatte darauf hingewiesen, daß die tüchtigsten deutschen Arbeiter Sozialdemokraten waren. Pirker ergänzt, daß sie immer zuerst deutsche Arbeiter waren. Ohne dies zu sehen, könne die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung nicht begriffen und keine erfolgreiche linke Politik entfaltet werden. Tief geprägt vom Elitebewußtsein dieser Facharbeiterschicht, ihrem Technikinteresse und ihrem Nationalbewußtsein sowie einem spezifischen Fasziniertsein vom Austesten der Grenzen des Erleidenkönnens von Gewalt, begeistert sich Pirker für die Fliegerei und den technischen Krieg. Er wird Fallschirmspringer. Bis heute ist Pirkers provokanter Standardsatz in Diskussionen über deutsche Geschichte: „Ich war kein Widerstandskämpfer, ich war Fallschirmspringer.“ In ihm kommt nicht nur seine Auffassung zum Ausdruck, daß eine solidarische Nachkriegsgesellschaft nur aufzubauen sei, wenn „wir uns der Erfahrung des Krieges und dem, was wir gemacht haben und was uns zugefügt wurde“ (S.28), stellen, sondern auch sein klares Bewußtsein davon, daß neben seiner arbeiteraristokratischen Herkunft der Krieg eine weitere wesentliche ihn sozialisierende Erfahrung war, die sich sowohl in seinem politischen als auch in seinem sozialwissenschaftlichem Denken wiederspiegelt und über die er stets die Auseinandersetzung sucht.

Vor dem Hintergrund seiner sozialen Herkunft gerinnt seine als Fallschirmjäger gewonnene Erfahrung zu einer grundsätzlichen Kritik am Prinzip des Generalstabs und generalstabsmäßiger Planung militärischer Aktionen. Dieser stellt Pirker das Konzept kleiner, mobiler und selbständiger Einheiten gegenüber. Während die Planung des Generalstabs sich auf riesige Räume und totale Ziele bezöge - der Natur der Sache nach nicht von konkreten Lagen ausgehen könne, sondern immer angenommene Lagen zugrundelegen müsse, aber als Planung des allmächtigen Generalstabs ein Befehl sei, der auch wider besserer Kenntnis der Situation umgesetzt werden müsse, die Arbeit des Generalstabs und damit er selbst somit kontraproduktiv sei und lediglich Durcheinander produziere -, könnten kleine, autonome Einheiten sich auf konkrete Ziele konzentrieren und ihr Verhalten an der jeweiligen realen Lage ausrichten. Dies alles ähnelt sehr bekannten Theorien des Guerillakriegs. In der Tat war Pirker auch eine Zeitlang militärischer Berater des algerischen Widerstands. Wichtiger aber ist, daß er die Ergebnisse seiner Kritik an der konventionellen Kriegsführung in die Politik und die Industriesoziologie hinein verlängert, was zu einer großen Affinität der politischen Theorie Pirkers und seiner militärtaktischen Überlegungen führt. Auch in der praktischen Politik, so Pirker, sei nur das konkrete Ziel (zum Beispiel Verhinderung der Atombewaffnung) aktionsfähig, und moralisierende Verallgemeinerungen politischer Ziele (zum Beispiel Kampf dem Atomtod) seien gleichbedeutend mit der Austreibung des Politischen.

Ähnliches findet sich in seinem Buch Büro und Maschine (1963). Pirker entwickelt dort, daß im Büro, einem Informationen verarbeitenden Mensch-Maschinen-System, die Organisation der Arbeit am Ziel und den jeweiligen Bedingungen ausgerichtet werden müsse, um einen optimalen Informationsfluß und Wirkungsgrad der Arbeit zu gewährleisten. Der Taylorismus als übergeordnetes Prinzip sei kontraproduktiv, weil er dazu führe, daß das Prinzip und nicht das konkre te Problem den Lösungsweg bestimme.

So sehr sich die Ergebnisse der Überlegungen Pirkers auch als richtig erwiesen haben mögen, so wichtig ist es dennoch, sich mit ihrem theoretischen Background auseinanderzusetzen. Die manchmal schier ungebrochene Verlängerung der aus der Analyse des Kriegs gewonnenen Erkenntnisse in die Politik ist Pirker möglich, weil er wie Clausewitz im Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sieht. Dies unterstellt, unterliegen - gewollt oder nicht - Politik und Krieg den gleichen Gesetzmäßigkeiten, nämlich denen der Gewalt, Macht und Effizienz. Die Linke muß darüber nachdenken, ob sie sich einen solchen Politikbegriff weiter leisten will oder ob sie ihr Ziel, den Abbau von Macht, in der Realisierung ihrer eigenen Politik nicht zumindest ein Stück weit vorwegnehmen muß. Übertragen zum Beispiel auf das vor dem Hintergrund mikroelektronisch basierter Automation heute äußerst brisante, von Pirker schon sehr früh aufgeworfene Problem der Organisation von Produktion und Büro, führt das zur Frage, ob die Konzepte des Kapitals einfach durch Gegenkonzepte - begründet mit höherer Effizienz - zu konfrontieren sind oder ob es den Bedürfnissen der Arbeitenden nicht angepaßter ist, für solche Konzepte zu streiten, die den Abbau von Macht und das Entgrenzen alter Arbeitsteilungen implizieren.

Das Problem des Pirkerschen Effizienzbegriffs wird vermutlich deutlicher, wenn gesehen wird, woraus er sich ableitet. Nach 1945 verschränken sich in Pirkers Denken auf neue Weise Nationalbewußtsein, Elitedenken und die inzwischen zum Glauben an die Rationalität industriellen Fortschritts geronnene Technikbegeisterung, alles zusammen einst Grundlage seines Fasziniertseins vom technischen Krieg. Pirker ist der Überzeugung, daß es 1945 Aufgabe der Linken gewesen sei, den Kampf um die Führung der Nation aufzunehmen. Er meint damit, für den Wiederaufbau Deutschlands auf dem international höchsten technischen Niveau einzutreten. Pirker glaubt, die Rationalität des technischen Fortschritts könne sich nur auf der Basis von Demokratie entfalten, weil komplexe technische Systeme autoritär nicht effektiv zu verwalten seien. Dies ist zwar richtig, aber dennoch höchstens die halbe Wahrheit. Es unterschlägt, daß industrielle Modernisierung, deren soziale Folgen unabsehbar sind oder nicht akzeptiert werden, häufig antidemokratische Bewegungen mit antimodernistischen Zielen hervorbringt. Die jüngste Gegenwart beweist das wieder überdeutlich.

Noch eine Frage wirft Pirkers Position zur Rationalität industriellen Fortschritts und ihre politischen Implikationen auf: Hat die Kritik der westdeutschen Nachkriegslinken an jener Politik, die zur Entstehung der BRD und ihrer Institutionen führte - so berechtigt sie im einzelnen sein mag - ihre Wurzel etwa im Streben nach nationaler Einheit und höchstmöglichem ökonomisch -technischem Wirkungsgrad für die gewünschte neue deutsche Gesellschaft, also in einem nationalen Vorherrschaftsstreben neuer Art?

In der Pirker-Biographie scheinen häufig die Widersrüche zwischen jene Gruppen auf, die nach 1945 die Organisationen der Arbeiterbewegung wiederaufbauten: Emigranten, ehemalige KZ-Häftlinge und Frontsoldaten, die als HJ-Jungen bezeichnet wurden und zu denen Pirker gehörte. Bis heute ist in der Linken dieser Konflikt tabuisiert. Bis heute pflegt sie den Mythos von der Wiedergeburt der Arbeiterbewegung in den Konzentrationslagern und in der Emigration. Bis heute ist der politische und organisatorische Einfluß der Frontsoldaten in der Nachkriegslinken höchstens punktuell erforscht und schon gar nicht in der Diskussion. Pirkers manchmal schonungslose und provozierende Offenheit in der Darlegung eigenen Denkens birgt die Chance, dieses Tabu ein kleines Stück weiter aufzubrechen und ein realistischeres Verhältnis zu unserer eigenen Geschichte und damit auch zu unserer eigenen Zukunkt zu gewinnen. Dies meint wohl auch Martin Jander, wenn er im Vorwort davon spricht, daß diese Linke eine Historikerdebatte nötig habe. Wer Theo Pirker kennt, weiß, daß er sich einer solchen Auseinandersetzung nicht verweigert. Viele Passagen des Interviews weisen darauf hin, daß er sie auf seine Art geradezu sucht.

Gerd Hurrle

* Martin Jander: Theo Pirker über Pirker. SP-Verlag, Marburg 1988. 157 Seiten, 28 DM