Stunde der Wahrheit für soziale Dimension naht

Sozialcharta, Umweltpolitik und demokratisches Defizit der EG als Schwerpunkte des neuen Europaparlaments / Trotz absoluter Mehrheit des linken Lagers weiter Elefantenschmusen zwischen Sozis und Christdemokraten / Italiens Kommunisten heimatlos  ■  Aus Straßburg Th. Scheuer

Wären die Sozis mehrheitlich noch, was sie mal waren, oder wenigstens, was sie zu sein vorgeben, bräuchte einem am Vorabend des Binnenmarktes um Europa nicht bange zu werden. Schließlich sind alle Institutionen EG-Europas seit dieser Woche fest in rosaroten Händen: Dem Beamtenapparat der Brüsseler EG-Kommission steht der französische Sozialist Jacques Delors vor. Das Europäische Parlament (EP) wird seit Dienstag von dem spanischen Sozialisten Enrique Baron präsidiert. Auch der amtierende Ratspräsident ist im zweiten Halbjahr dieses Jahres, ebenso wie sein Vorgänger, Sozialist: Der französische Außenminister Dumas trug am gestrigen Donnerstag im Straßburger Plenarsaal des EP Arbeitsprogramm und Prioritäten der französischen EG -Präsidentschaft vor.

Doch statt Konkretem zu den angekündigten Schlüsselthemen soziale Dimension und Umweltpolitik kamen den Abgeordneten wieder mal nur wohlfeile Allgemeinheiten zu Ohren: Das Europa 92 solle keineswegs nur „ein Europa der Waren und des Kapitals“ werden; es dürfe nicht die Nivellierung der Arbeitnehmerrechte nach unten bedeuten. Doch wie denn die vielgenannte „soziale Dimension“ konstruiert sein soll, wie er das längst überfällige Projekt einer gemeinschaftlichen Sozialcharta endlich unter Dach und Fach zu bringen gedenke, darüber mochte sich der neue EG-Ratspräsident nicht näher auslassen.

Auch zur Umwelt nur die Ankündigung, die EG werde das Montrealer Protokoll zum Schutz der Ozonschicht - von Experten mittlerweile als unzureichend eingestuft - „rascher umsetzen“. Konkret gerieten Dumas‘ Vorschläge nur, als es um Symbolisches ging: Ein einheitlicher EG-europäischer Jugendausweis soll den Jugendlichen der Zwölfer-Combo „die Tore Europas“, weniger pathetisch: die Türen von Museen und dergleichen öffnen. Außerdem will der Franzose die Wehrdienstverweigerer aller EG-Länder im Dienste der Völkerfreundschaft gemeinsam ihren Zivildienst leisten lassen.

Selbst Dumas‘ Landsmann und Parteifreund, dem Fraktionschef der Sozialisten Jean-Pierre Cot, war das zu dürftig. Auf dem Weg zum Binnenmarkt müsse endlich die Maxime „Der Markt wird's wohl richten“ aufgegeben werden. Cot: „Das soziale Europa tritt auf der Stelle, die Sozialcharta wird von einem Gipfel auf den anderen verschoben.“ Derweil rase der Gesetzgebungszug der Gemeinschaft weiter. Doch Sozialklauseln seien in keinem der letzten Gesetzgebungsprojekte zu finden. Schon am Mittwoch hatte Kommissionschef Delors lamentiert, daß sein Entwurf der Sozialcharta für den Madrider EG-Gipfel im Juni „praktisch umsonst“ gewesen sei, und gemahnt: „Die Stunde der Wahrheit für die soziale Dimension naht!“ Den schwarzen Peter schob Delors der britischen Premierministerin Thatcher zu.

Noch sind die Bündnis-Claims im eben erst konstituierten EP nicht endgültig abgesteckt. Gewicht erhält das EP im Machtkampf mit dem gesetzgebenden Ministerrat nur, wenn es Beschlüsse mit absoluter Mehrheit faßt. Das führte in der Vergangenheit zum Elefantenschmusen zwischen den beiden großen Fraktionen der Sozialisten und der Christdemokraten. Seit den Wahlen im Juni verfügt das linke Lager zwar über die absolute Mehrheit. Zumindest beim Verteilen der zahlreichen Parlamentsposten zogen die Sozis bisher aber den bequemen Konsens dieser „großen Koalition“ dem Feilschen mit den kleineren linken und grünen Fraktionen vor. Als feste Bündnispartner im linken Lager haben sich die Sozialisten bisher nur die italienischen und spanischen Kommunisten angelacht. Die könne er sich durchaus in der eigenen Fraktion vorstellen, teilte Jean-Pierre Cot in interner Sitzung bereits seiner Fraktion mit. Doch der italienische Sozialist Craxi verhindert bisher den Anschluß der PCI. Da diese nicht länger mit den orthodoxen Betonköpfen aus Frankreich und Portugal zusammengehen wollten, gibt es nun zwei kommunistische Fraktionen im EP. Die Grünen dagegen haben sich leidlich zusammengerauft und haben sich den befürchteten deutsch-französischen Hahnenkampf um die Fraktionsführung geschickt erspart, indem sie den Tiroler Alexander Langer und die Portugiesin Maria Santos zu gemeinsamen Fraktionschefs wählten. Dafür wurde der Chef der französischen Les Verts, Antoine Waechter, auf den Sessel des Vorsitzenden im Regionalausschuß gehievt, und der deutsche Grüne Wilfried Telkämpfer darf als einer von 14 Vizepräsidenten demnächst sogar stundenweise Plenarsitzungen einläuten.