Drei Mündel werden volljährig

■ Gestern stimmte der Moskauer Oberste Sowjet der Wirtschaftsautonomie für die baltischen Republiken zu

Vor einem Jahr waren es gerade ein paar tausend DemonstrantInnen, die in den Hauptstädten der Republiken Lettland, Estland und Litauen auf ihren Transparenten nationale Unabhängigkeit forderten. Mittlerweile sind die baltischen Volksfronten zu solchen Massenbewegungen geworden, daß gestern trotz vieler Bedenken vor allem der ärmeren Unionsrepubliken der Oberste Sowjet die wirtschaftliche Autonomie der Balten beschloß, um den Konflikt zu entschärfen - mit 382 gegen nur 15 Stimmen.

Die gestern vom Obersten Sowjet in Moskau gebilligten Gesetzentwürfe bedeuten einen radikalen Bruch mit der sowjetischen Wirtschaftspraxis der letzten 60 Jahre und zugleich einen sensationellen Einschnitt im Verhältnis der sowjetischen Republiken zur Moskauer Zentrale. Erstmals wird Unionsrepubliken das Recht zugestanden, ökonomische Entscheidungen ohne Moskauer Bevormundung zu treffen.

Bislang lag die Kompetenz für alle wesentlichen - und die meisten unwesentlichen - wirtschaftlichen Fragen bei den Zentralministerien: die Anzahl der in Litauen zu produzierenden Radios ebenso wie der Zementpreis, den ein lettischer Bauherr an eine Zementfabrik in Kasachstan zu zahlen hatte. Für die Republik Estland etwa bedeutete die Zentralisierung, daß 95 Prozent der industriellen Produktion von Moskau vorgeschrieben wurde.

Damit soll ab 1. Januar 1990 Schluß sein. Eine überraschend große Mehrheit im Obersten Sowjet votierte gegen die massiven Bedenken vor allem russischer und zentralasiatischer Deputierter, die in der Gewährung wirtschaftlicher Autonomie den Anfang vom Ende der Zentralrepublik wittern. Demgegenüber hatten die Abgeordneten der baltischen Staaten immer wieder deutlich gemacht, daß die Zurückweisung des Autonomieplans die baltischen Unabhängigkeitsbewegungen weiter radikalisieren würde.

Druck von der Basis

Gerade vor dem Hintergrund der jüngsten Streiks russischer Arbeiter in Estland gegen die neue Sprachen- und Wahlgesetzgebung dort und angesichts der gegenläufigen Bestrebungen radikaler estnischer Kreise nach völliger Loslösung von der Sowjetunion, dürfte die Hoffnung auf Entschärfung des Nationalitätenkonflikts die Deputierten mit zu ihrer klaren Entscheidung für den Autonomieplan bewogen haben.

Der estnische Ministerpräsident Indrek Toome hatte vor „ernsten Konsequenzen“ für den Fall der Ablehnung gewarnt. Das hätte - so Thoome - bedeutet, daß neue Beziehungen zwischen den einzelnen Republiken und zu Moskau auch in Zeiten der Perestroika nicht möglich seien. Wie er das dann zu Hause seinem Volk erklären solle, fuhr Thoome vielsagend fort, wisse er auch nicht.

Zur Begründung der jetzt durchgesetzten Autonomiepläne dient den baltischen Staaten nicht nur die Kritik an der im wahrsten Sinne kontraproduktiven Bevormundung durch Moskau, sondern auch direkte finanzielle Erwägungen. Denn die baltischen Staaten, die zu den industriell entwickeltsten der Union zählen, müssen mehr Mittel an die Union abführen als sie von dort erhalten. Werden aber die baltischen Wirtschaftsträume wahr, wird sich auch dies bald ändern. Denn die jetzt gebilligten Gesetzentwürfe sind - wenn es nach ihren Vorstellungen geht - nur der erste Schritt bei der Umgestaltung der ökonomischen Beziehungen auf Unionsebene, die letztlich auf die völlige Dezentralisierung der sowjetischen Ökonomie hinausläuft.

Die Republiken wären dann autonome ökonomische Einheiten, die untereinander interessenorientiert und selbständig Handel treiben. Kein Wunder, daß sich besonders die weniger entwickelten zentralasiatischen Republiken für solche Vorstellungen nicht sonderlich begeistern können. Das wurde auch in der Autonomiedebatte im Obersten Sowjet deutlich, wo sich in den vergangenen beiden Tagen erstmals Bündnisse zwischen den Republikdeputierten andeuteten, die sich nicht an ideologischen, sondern an rein ökonomischen Überlegungen orientieren. So unterstützten die Deputierten aus den sonst als eher konservativ geltenden Republiken Ukraine und Bjelorußland ebenso wie die aus Georgien und Armenien den Gesetzentwurf, weil sie sich durch ihre relativ entwickelte industrielle Struktur von der Dezentralisierung Vorteile versprechen.

Arme gegen Reiche

Während die ethnisch begründeten Nationalitätenkonflikte noch in vollem Gange sind, könnten der Sowjetunion aus der jetzt eingeleiteten wirtschaftlichen Selbständigkeit einzelner Republiken neue, ökonomisch begründete Spannungen erwachsen: zwischen armen und reichen Republiken. In diesem Sinne argumentierten auch mehrere russische Deputierte, die ein weiteres Auseinanderdriften der Lebensverhältnisse befürchten. „Viele Grubenarbeiter in Sibirien“ - so der Abgeordnete Venyamin Yarin, „leben noch immer in Holzhütten aus den dreißiger Jahren. Was ihr im Baltikum schon habt, davon können sie nicht einmal träumen.“

Der Abgeordnete Fjodor Burlatski wiederum versuchte, die teilweise heftig geführte Debatte zu entspannen, indem er sowohl übertriebene Prosperitätsträume in den baltischen Ländern als auch die Separationsbefürchtungen russischer Deputierter relativierte: „Selbst die westlichen Experten sind der Ansicht, daß die Wirtschaft der baltischen Länder auf dem kapitalistischen Markt nicht konkurrenzfähig ist und daß diesen Republiken keine andere Wahl bleibt, als in die UdSSR eingebunden zu bleiben.“ Und sein Kollege Wiatscheslaw Fjodorow kritisierte die eigennützige Argumentation vieler Debattenbeiträge: „Niemand hier macht sich Sorgen darüber, ob dieses Avantgardeprojekt nicht die Republiken, die sich daran wagen, ruinieren wird. Wie neidische und aggressive Sklaven fürchtet man nur, sie könnten reicher werden.“

Neben der neuen Konkurrenz zwischen den Republiken spielte bei der Debatte vor allem die Frage der Konformität der Gesetzentwürfe mit der Unionsverfassung eine herausragende Rolle. In einer letzten Kommissionssitzung hatten sich die Vertreter der baltischen Staaten noch bereit erklärt, einige umstrittene Forderungen fallenzulassen, die eindeutig im Widerspruch zur Unionsverfassung standen, wie die Einführung einer eigenen Währung. Und der Begriff des „Eigentums“ der Republiken an ihren Rohstoffen wurde durch „Besitz“ ersetzt.

Andererseits hielten die Deputierten ausdrücklich fest, daß diejenigen sowjetischen Gesetze über die Wirtschaftsbeziehungen innerhalb der UdSSR, die der neuen Autonomie zuwiderlaufen, auf dem Territorium der drei Republiken keine Gültigkeit haben. Die nächste Konfliktrunde steht nach der zu erwartenden Ungültigkeitserkärung des Geheimabkommens von 1939 ins Haus: Dann werden die Unabhängigkeitsbewegungen den Anschluß von 1941 selbst in Frage stellen.

Matthias Geis