Balten bekommen ihre Autonomie

■ Oberster Sowjet in Moskau beschließt wirtschaftliche Selbständigkeit Hitler-Stalin-Geheimabkommen vor Annullierung

Berlin(taz) - Den baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen ist in der Frage ihrer Unabhängigkeit ein Durchbruch gelungen. Nach einer zweitägigen kontroversen Debatte entschieden sich die Deputierten des Obersten Sowjet in Moskau überraschend deutlich für zwei Resolutionen, die eine weitreichende ökonomische Selbständigkeit für diese Republiken vorsehen. Gleichzeitig verdichten sich die Anzeichen, daß Moskau bereit ist, den Forderungen der baltischen Staaten nach Annullierung des Geheimprotokolls zum Hitler-Stalin-Pakt nachzukommen, das Grundlage für die Annexion der baltischen Staaten war.

Mit der ersten Resolution des Obersten Sowjet, die mit 382 gegen 15 Stimmen verabschiedet wurde, erhalten Estland, Litauen und Lettland das Recht, unabhängig von Moskau mit anderen Sowjetrepubliken Handel treiben. Mit der zweiten Resolution billigte das Gremium einen Gesetzesentwurf zur vollen wirtschaftlichen Selbständigkeit Litauens und Estlands. Künftig wird nicht mehr die Zentrale in Moskau, die baltischen Staaten werden selbst über Fragen der Produktion und die Verwendung der Gewinne entscheiden.

Während mit den jüngsten Beschlüssen die ökonomische Autonomie der baltischen Länder auf den Weg gebracht wird, scheint auch in ihr politisches Verhältnis zu Moskau neue Bewegung zu kommen. Galt die Forderung der baltischen Unabhängigkeitsbewegungen nach Annullierung des Zusatzprotokolls zum Hitler-Stalin-Pakt bislang als aussichtslos, so scheint Moskau jetzt auch hier zum Einlenken bereit. Eine vom Obersten Sowjet eingesetzte Kommission empfiehlt dem Parlament, das Protokoll „vom Moment der Unterzeichnung an für ungültig und juristisch nicht haltbar“ zu erklären.

Das dürften auch die 16.000 Demonstranten begrüßen, die am Mittwoch in Riga den Obersten Sowjet der Republik aufforderten, die Souveränität Lettlands zu erklären.

Bei soviel Emanzipationsbestrebungen kann es nicht überraschen, daß auch die Konservativen sich wieder zu Wort melden: Die Leningrader Soziologin Nina Andrejewa, die bereits 1988 mit einem spektakulären Rundumschlag gegen die Perestroika ins Feld gezogen war, versucht es erneut. In der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift „Rote Garde“ vergleicht sie Gorbatschows Reformen mit der Entwicklung in Ungarn 56 und Prag 68.

Matthias Geis

Siehe Tagesthema Seite3