Gesundheitspolitischer Kahlschlag?

■ Bislang zeichnet sich keine Rettung für das St. Marienkrankenhaus ab

„Stadtteilnah, dezentral und ganzheitlich“ - griffig und eingängig wie eine Schokoladenwerbung klingt das Motto rot -grüner Gesundheitspolitik. Ausgerechnet das Marienkrankenhaus, das zum Vorzeigeobjekt dieser Politik werden könnte, ist von der Schließung bedroht. 1992 soll das St.Marien endgültig aus der Lausitzer Straße in Kreuzberg verschwinden. Die über 70.000 Bewohner des SO36 verlieren in diesem Fall nicht nur 169 dringend benötigte Krankenhausbetten sondern auch jede Akutversorgung von der Chirurgie bis zur Ersten Hilfe. Politisch ruhmvoll erscheint diese Entscheidung mittlerweile keinem der Beteiligten mehr, doch weder der Träger, eine katholische Stiftung, noch Caritas-Verband oder Gesundheitssenat haben bisher Bereitschaft zu entschlossenen Rettungsaktionen gezeigt.

Der Anfang vom geplanten Ende des St.Marien liegt in den siebziger Jahren, als in den gesundheitspolitischen Visionen der damals regierenden SPD kleine, stadtteilnahe Krankenhäuser keinen Platz mehr hatten. Großkrankenhäuser und Hochleistungsmedizin bestimmten das Gesundheitswesen die Ergebnisse dieser Politik sind hinlänglich bekannt. Daß der Träger, die katholische Stiftung „Maria Immaculata“, eines seiner beiden Krankenhäuser schließen muß, stand bereits 1978 fest. Während die Stiftung in Gestalt ihre Direktors Mohr erklären ließ, sie sei damals vom Senat zur Aufgabe des St.Marien gedrängt worden, vertrat Gesundheitsenatorin Stahmer auf einer Bürgerversammlung im Juni die umgekehrte Version: Nicht der Senat, sondern der Träger habe seinerzeit vorgeschlagen, das Krankenhaus im Kreuzberger Kiez zu schließen.

Der mittlerweile umstrittene Bettenbedarfsplan des alten CDU/FDP-Senats aus dem Jahr 1986 sieht nun vor, das Haus in der Lausitzer Straße zu schließen und die Krankenhäuser St.Marien und Maria Trost in Lankwitz zusammenzulegen. 141 Betten würden auf diese Weise gespart. Ein Erweiterungsbau mit 296 Betten wird in Lankwitz bereits errichtet. Im Sommer 1990 soll bereits die chirurgische Abteilung aus dem St.Marien nach Lankwitz umziehen, 1992 folgt der Rest. Was sich auf dem Reißbrett so einfach ausnimmt, hätte für den Stadtteil fatale Folgen. Kreuzberg gehört mit Tempelhof und Neukölln zum „BereichC“ und damit zu der am schlechtesten versorgten Region in Westberlin, wie eine Analyse der Gesellschaft „für behutsame Stadterneuerung“ S.T.E.R.N. ergab. Hier müssen die Menschen mit der geringsten Bettenzahl in den Abteilungen Innere Medizin und Chirurgie auskommen, obwohl für den Krankenhausplan 1986 der höchste Bettenbedarf prognostiziert worden war.

Eine Schließung des Hauses erscheint angesichts des wachsenden Protestes auch dem Träger „Maria Immaculata“ nicht mehr opportun. Der hatte bereits Verhandlungen zum Verkauf des Grundstücks geführt, schlägt nun aber vor, das Haus für Altenpflege zu nutzen. „Die Idee kommt mir etwas spät“, erklärte Michael Fröhling vom Verein SO36 lakonisch. Nachdem die meisten alten Menschen aus Kreuzberg „behutsam wegsaniert“ worden seien, entspreche ein Altenpflegeheim kaum den Bedürfnissen des Bezirks. Hinter dem Vorschlag des Trägers hat sich momentan auch der Gesundheitssenat bequem eingerichtet. Zwei Monate benötigte die Verwaltung, um in einem Antwortbrief an S.T.E.R.N. zu erklären, das St.Marien könne doch in Zukunft Aufgaben aus dem Bereich der geriatrischen Versorgung übernehmen.

Gegen den drohenden gesundheitspolitischen Kahlschlag in SO36 wehrt sich seit Monaten ein Zusammenschluß aus Kiezinitiativen, Ärzten, Sozialarbeitern und Bewohnern aus dem Bezirk sowie fast die gesamte Belegschaft des St.Marien -Krankenhauses. Die sprach sich auf einer Versammlung zu 95Prozent gegen eine Verlegung nach Lankwitz aus - trotz mehr oder weniger subtilen Drucks seitens des Arbeitgebers „Maria Immaculata“. Vor dem Hintergrund, daß Arbeitnehmer kirchlicher Betriebe bei weitem nicht mit den gleichen Rechten ausgestattet sind wie ihre „weltlichen“ Kollegen und betriebsinterne Kritik durchaus Kündigungsgrund sein kann, war dies ein bemerkenswertes Ergebnis.

Ärzte, Kiezinitiativen und Sozialarbeiter fordern nicht nur den Erhalt des St.Marien, sondern schlagen ein neues Konzept eines „Kiezkrankenhauses“ vor - eben „stadtteilnah, dezentral und ganzheitlich“, wie es sich die Gesundheitssenatorin wünscht. Vor allem die Grundversorgung müsse erhalten bleiben und auf die hinreichend bekannten Probleme im Kreuzberger Kiez abgestimmt werden: Behandlung wohnungs- und arbeitsloser Suchtkranker; ein Kindernotdienst, der bisher fehlt; eine Lehr-und Diätküche; Krankenwohnungen für pflegebedürftige, meist ältere Patienten und ein Ausbau der Erste-Hilfe Ambulanz.

Ob aus diesem Konzept je Wirklichkeit wird, entscheidet sich in den nächsten Wochen, wenn der umstrittene Bettenbedarfsplan aus dem Jahre 1986 überarbeitet werden soll. Die Gesundheitsverwaltung will den Plan „fortschreiben“, die AL fordert, ihn umgehend außer Vollzug zu setzen - auch um Einrichtungen wie das St.Marien zu erhalten. Von der breiten Beteiligung aller MitarbeiterInnen im Gesundheitswesen an der neuen Planung, wie es in den Koalitionsvereinbarungen steht, ist wenig zu spüren: Bisher wurden nur die Chefärzte der Berliner Krankenhäuser um eine Stellungnahme gebeten.

Andrea Böhm