: Unser Land, wir
■ Über den Zusammenhang von Sprache, Umweltbewußtsein und Nationalismus in der Ukraine
Irene Maryniak
Mit einem wahren Berg von Notizen, die ich aus sorgfältig zusammengesuchten Zeitungsausschnitten zusammengestellt hatte, kam ich in Kiew an. Als ich sie in meinem Hotelzimmer - von dessen Fenster aus ich mindestens zehn Fabrikschlote zählte - noch einmal durchsah, fiel mir eine Stichwortformulierung besonders ins Auge. Sie lautete: „Umweltschutz als versteckter Aufruf zum Nationalismus.“ Ukrainische Separatisten unterwanderten also offenbar die Umweltschutzbewegung, um ihre eigene, höchst gefährliche und fragwürdige Sache durchzudrücken.
Merkwürdig, dachte ich nach einem Spaziergang durch diese würdige und liebenswerte Stadt, wie merkwürdig ist es doch, daß eine solche Formulierung im Handumdrehen zwei ganz und gar legitime Anliegen eintrüben kann: eine gefährlich vergiftete Umwelt und ein vom schnellen Verschwinden seiner Kultur berohtes Volk. Schließlich geht es beim Umweltschutz in der Ukraine schon lange nicht mehr darum, sondern nur noch um eine nachträgliche und verspätete Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen menschlicher und natürlicher Umwelt. Es geht um den Wunsch, seine Kinder ungefährdet aufwachsen zu sehen und sein Leben von der schrecklichen Sorge zu befreien, daß man selbst oder jemand, der einem nahesteht, eher früher als später tödlich erkrankt durch die Ausdünstungen der Chemiefabrik um die Ecke oder das Atomkraftwerk ein paar Kilometer weiter.
Und Nationalismus, dachte ich mir, hat viel zu tun mit dem Drang nach direkten Mitteln des Selbstausdrucks. Durch das Russische als offizielle Sprache fühlen sich viele Ukrainer, als gehörten sie einer Nation von häßlichen Entlein an: Sie sehen etwas anders aus, empfinden sich als sehr anders und schaffen es außerdem nicht, ganz unbeschwert zu schnattern.
Es gibt eine klare Beziehung zwischen Umwelttragödie und nationalem Problem. Im Zustand der Unschuld ist nationales Bewußtsein nichts anderes als die Entwicklung einer engen Bindung an den Ort, an dem man lebt; und Ökologie handelt von der zuträglichen Gestaltung dieser Umgebung. Wohl keiner hat gerne das Gefühl, sein Zuhause hätten sich Fremden angeeignet und nur wie zur Pacht an einen zurückgegeben, zerrupft, verdorben und teilweise unbewohnbar...
Die Ukrainer haben es nicht leicht gehabt. Unter Stalin verloren sie 15 Millionen Menschen (allein 5 bis 8 Millionen durch die politisch motivierte Hungerkatastrophe von 1932/33); im Zweiten Weltkrieg starben noch einmal 5 Millionen. Ihre Versuche, sich als Nation wiederherzustellen, waren immer vergebens.
Die Nationalisten der späten zwanziger Jahre sind umgebracht oder ins Exil getrieben worden (ein als „hingerichtete Renaissance“ erinnertes Ereignis); die in den sechziger Jahren unter KP-Chef Petro Schelest aktiven Nationalisten wurden stillschweigend „gesäubert“ (die „erstickte Renaissance“). Unter dem Vorzeichen der Perestroika versuchen sie es jetzt noch einmal; mit entsprechendem Rückenwind aus dem Baltikum wäre es erstaunlich, wenn sie es nicht täten. Heute liegt die Betonung auf der Wiederherstellung der ukrainischen Sprache und Kultur - und das Zentrum dieser Aktivitäten ist die Gewerkschaft der Schriftsteller.
Dort wurde das Programm der Ukrainischen Bewegung zur Unterstützung von Perestroika im Februar entwickelt; ihre Mitglieder haben vor kurzem die Gründung der Taras -Schewtschenko-Gesellschaft1 für ukrainische Sprache initiiert, die den Gebrauch des Ukrainischen in Schulen, Universitäten und Medien fördern helfen soll; und durch die Ökologiekommission der Schriftstellergewerkschaft erhält die größte unabhängige Umweltorganisation der Republik, Zeleniy Svit (Grüne Welt), ihre stärkste Unterstützung. Tschernobyl in der Seele
Um mehr zu erfahren, begab ich mich dorthin und wurde sehr liebenswürdig empfangen. Das Haus der Schriftstellergewerkschaft ist ein großzügiges Gebäude im neo-klassizistischen Stil, nur etwa hundert Meter entfernt vom Parteibüro in derselben Straße. Eine elegante Treppe führt hoch zum Besucherfoyer mit seinen kunstvollen Holztäfelungen und einem riesigen, reichhaltig verzierten Keramikofen.
Ivan Drach, seit 1987 Erster Sekretär der Gewerkschaft, saß mir müde und gehetzt gegenüber und lauschte ungeduldig meinem Versuch, ihm meine - wie ich meinte: originelle These auseinanderzusetzen. Es erscheine mir unmöglich, so tastete ich mich vor, die Vorstellung von der physischen Umwelt von der der kulturellen Umwelt zu trennen, also die von Umweltschutz und Sprache. Man könne seine Wörter gewissermaßen nicht von seiner Umgebung abtrennen, von der Luft, die man atme... nun ja, und überhaupt, was meine er dazu?
Er meinte, daß das mehr als offenkundig sei.
Tschernobyl sei zum Katalysator geworden, der den Menschen durch einen Schock dieses Band zwischen Umwelt, Sprache und kollektiver Selbstachtung bewußt gemacht habe. Hier habe sich auf körperlicher Ebene ausgedrückt, was sich seit Jahren vollziehe; es spiegele nur das Tschernobyl des Geistes, das unbarmherzig an der ukrainischen Kultur gefressen hat, an den Ukrainern selbst, und ihren Sinn für Identität ausgehöhlt hat. Das nationale Erwachen, das zur Zeit stattfindet, ist in Wirklichkeit der Ausbruch einer lange unterdrückten und blockierten Energie.
„Selbst Leute, die sich bisher keinerlei Gedanken darüber gemacht haben, fühlten plötzlich so etwas wie eine latent vorhandene Verletzung. Sie konnten sich nicht ausdrücken, fühlten sich psychologisch niedergehalten - und schließlich haben sie begriffen, daß ihre Achillesferse zum Teil die Abwesenheit ihrer Muttersprache ist. Und die Entdeckung der Sprache ist nur der Anfang, sie stellt uns auf die Füße. Sie bestätigt unser Menschsein.“
Ist das der Grund, warum es Schriftsteller waren, die die Volksfront zur Unterstützung von Perestroika initiiert haben?
Nicht der einzige, es gab auch praktische Gründe. Die Schriftstellergewerkschaft war immer mehr zu einer Art Wohlfahrtsorganisation geworden. „Hierher kommen die Menschen mit ihren Problemen, mit Sachen, die sie weder durchs Zentralkomitee noch durch die Ministerien lösen können. Sie kommen zu uns aus allen möglichen Gründen manche mögen trivial erscheinen, zeigen letztlich aber nur, daß die staatlichen Mechanismen nicht funktionieren, vor allem werden sie den Menschen als Menschen nicht gerecht. Viele brauchen nicht mehr, als daß ihnen zugehört wird und vielleicht einen Rat. Zum Beispiel war eine Frau einmal hier, die sich über schlechte Behandlung durch Mediziner beklagte. Man hatte sie in die Psychiatrie gesperrt. Normalerweise wäre das eine Angelegenheit des Gesundheitsministeriums, aber sie kam zu uns, um uns zu sagen, daß sie ein lebender Beweis für die Mangelhaftigkeit des Systems ist.“
„Wir sind, ohne es zu wollen, zum Zentrum der Volksbewegung geworden, und bis heute fehlen uns die Einrichtungen, um alles das zu koordinieren. Es ist eine außerordentliche Situation. Und der Besucherstrom reißt nicht ab, auch weil die Schriftsteller so positiv auf die neuen Anforderungen reagiert haben. Die Schriftsteller spielen eine große Rolle für die Moral und den Geist unserer Gesellschaft.“
Die Folge davon war, daß ihre Aktivitäten zu einem wichtigen politischen und gesellschaftlichen Einfluß wurden.
Yuri Schtscherbak, Autor eines zweibändigen Romans über Tschernobyl, wurde am 26. März in den Kongreß der Volksdeputierten gewählt. Er ist Vorsitzender von Zeleniy Svit und leitet die Ökologiekommission der Schriftstellergewerkschaft. Auch sein Beitrag zur Volksfront, die Druck auf die Behörden zur Beschleunigung des Demokratisierungsprozesses ausübt, hat sicher eine Rolle gespielt.
„Im Sommer vergangenen Jahres wurde die Perestroika -Unterstützungsgruppe innerhalb der Schriftstellergewerkschaft gegründet, und bereits im Herbst begannen die Gespräche. Wir bereiteten ein Schreiben vor, eine Art Programm; es war wirklich beeindruckend, Schriftsteller gemeinsam an einer so unverhüllt politischen Aufgabe arbeiten zu sehen. Ich erinnere mich gut an die Zeit, als sie sich untereinander ständig an die Kehle gingen, sich gegenseitig denunzierten und ruinierten, wie nur Schriftsteller das können. Aber der Vorschlag für ein Programm der Volksfront traf auf beispiellose Einmütigkeit. Es gab weder Gegenstimmen noch Enthaltungen, obwohl es vorher viel Streit und Kritik gegeben hatte. Hier, in unseren eigenen vier Wänden, haben wir die ersten Schritte zur Demokratie gelernt. Die Falken in der Partei waren wütend, daß sich Schriftsteller anmaßten, als Vermittler zwischen Behörden und Öffentlichkeit zu agieren; man beschuldigte uns, die Bevölkerung zu indoktrinieren. Das Programm wurde vor und nach der Veröffentlichung im Fernsehen und in der Presse angegriffen. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, wie eine Rede, die ich zur Unterstützung der Bewegung gehalten hatte, als wüste Attacke dargestellt wurde.“
Der bekannte Kritiker Dmitro Pawlischko jedoch meint, daß die Schwierigkeiten, auf die die Bewegung stieß, auch etwas Gutes hatten: „Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, daß wir nicht so schnell damit durchgekommen sind wie etwa die Bewegung in den baltischen Staaten, in denen die Volksfronten eine sehr nationalistische Kehrtwende genommen haben. Wir möchten aber, daß alle beteiligt werden, denn es ist nicht nur eine Frage des Nationalismus - obwohl das natürlich hineinspielt; es geht vielmehr um ökologische, ökonomische und soziale Fragen. Wir wollen nicht als Separatisten auftreten. Sowieso macht das keinen Sinn mit 10 Millionen Russen in der Ukraine und 150.000 Juden allein in Kiew. Unsere Bewegung ist insofern etwas sehr Neues für die Sowjetunion.“
Daß Yuri Schtscherbak schließlich Kandidat des neuen sowjetischen Parlaments wurde, hatte viel damit zu tun, daß er als Schriftsteller sowohl mit der Kampagne für die Volksfrontbewegung als auch mit den „Grünen“ assoziiert wurde. Die Belegschaft einer Fabrik für Großraumflugzeuge bat ihn in einem Telefonanruf, ihre Nominierung für die Wahl anzunehmen (er behauptet, von Flugzeugen nichts zu verstehen) - und unerwartet gewann er die Mehrheit. Er gibt zu, daß es ein harter Kampf war: „Sitzungen können bis zu 13 Stunden dauern (ist das bei euch auch so schlimm?), und die meiste Zeit mußte ich Fragen beantworten. Die Menschen sind erstaunlich mutig geworden. Ich bin am besten, wenn mir alles egal ist. Einmal zum Beispiel, als ich ziemlich überzeugt war, schon verloren zu haben, sagte ich, daß meine erste Aktion als Deputierter wäre, Schtscherbitskys2 Rücktritt zu fordern: Ich bekam eine fünfminütige stehende Ovation. Aber ich bin kein Revolutionär. Wir haben schon genug Tote hier gehabt, und ich möchte nicht, daß noch mehr Kinder auf die Straße gehen und getötet werden. Die Dinge muß man langsam angehen und mit großer Sorgfalt. Das wichtigste ist jetzt, daß wir einen legalen Status kriegen und auch behalten. Das wird noch einige Zeit dauern.“
Er versicherte mir, daß er im Falle seiner Wahl gewiß nicht mehr ans Schreiben denken könnte.
Wenn Schriftsteller sich als Wohlfahrtspfleger, Öffentlichkeitsarbeiter und Politiker betätigen, muß die Literatur darunter leiden. Am besten geht es zur Zeit der Publitsistika (Journalismus beziehungsweise dokumentarisches Schreiben), und wiederholt sagte man mir, daß da jetzt auch die Priorität liegen müsse. Neueste Literatur tendiert sehr zu didaktischen und ermahnenden Tönen, und zwar mit Umweltschutz als dem prominentesten Thema. Die Hauptaufgabe sei, so betonte Ivan Drach, die Öffentlichkeit aus der Betäubung zu wecken, die durch Tschernobyl bewirkt worden sei. Dies Land gehört keinem
Dmitro Pawlitschko, der auch Vorsitzender der Taras -Schewtschenko-Gesellschaft für die ukrainische Sprache ist, reflektierte über die gegenseitige Abhängigkeit und Durchdringung der Themen: „Der Anfang sind immer Worte und Erinnerung, Sprache und das Niederschreiben von Geschichte. Wenn man sich selbst und den menschlichen Geist nicht achtet, kann man auch das Land nicht achten, das einen hervorgebracht hat. Aber das kommt auch daher, daß dies Land keinem gehört - deshalb kann man alles mit ihm machen. Unsere Verbindung zur Erde ist zerrissen, und zwar nicht nur, weil wir alle unter einem nationalen Nihilismus leiden, sondern auch, weil Stalins Sozialismus die Arbeiter und Kleinhaushalte dem Land entzogen hat... Umweltschutz ist eine Haltung des Denkens, ein geistiger Zustand. Wenn keiner mehr weiß, wo er eigentlich ist, was in diesem Land vor tausend Jahren gewesen ist, wer die Vorfahren waren, wer hier gestorben ist, wenn man kein Gefühl der Zugehörigkeit hat, kein historisches Bewußtsein, wenn man sein Land nicht liebt - nicht nur um seiner Schönheit willen, sondern weil es das Land der Vorfahren ist -, dann kann man kein Ökologiebewußtsein haben. Selbst wenn man schon begriffen hat, daß das eigene Leben davon abhängt, kann man trotzdem nur indifferent sein.“
Die Aufgabe der Schriftsteller war es, das Band zwischen Literatur, Nationalität und Umwelt sichtbar werden zu lassen. „Denn das alles gehört zusammen wie Kopf, Blutkreislauf und Glieder. Und wenn die Literatur vielleicht der Kopf ist, dann ist das Nationalgefühl das Blut, das durch die Adern strömt, und die Umwelt ist unsere Körpergestalt, die Glieder. Alles ist Teil von uns und lebenswichtig für den Menschen.“
Aber es ging nicht nur darum, der Bevölkerung ein neues Identitäts- und Geschichtsbewußtsein zu vermitteln, besonders auch wegen der vielen anderen Nationalitäten, die in der Ukraine leben. Pawlitschko meint, daß dies für die Ukrainer auch der Moment war, in dem sie die Fähigkeit zum direkten Selbstausdruck wiederentdeckten und sich vielleicht von einer fehlgegangenen Psychologie noch erholen können. „Denn Sprache ist Ausdruck des menschlichen Geistes, sie bestätigt dich, deine Kraft und deine Freiheit. Sie schützt einen vor dem Gefühl der Unterlegenheit - und ein nationales Unterlegenheitsgefühl ist etwas Schreckliches... Jede Sprache ist eine Welt für sich: ein Fenster zum Herzen des Menschen. Wo man eine Sprache sterben läßt, da stirbt die Menschheit selbst. Und wir sind lange gestorben. Nach der Revolution gab es in der Sowjetunion noch 193 Sprachen, inzwischen werden nur noch 39 in den Schulen gelehrt. Wenn wir die Vielfalt nicht erhalten können, dann ist das das Ende, Schluß - aus. Wir können dann natürlich alle Esperanto sprechen. Aber das ist nicht das, was die Menschen wollen. Und warum sollten sie auch?“ Zurück zu den Quellen
Der Lyriker Yuri Serdyuk sorgt sich besonders um den Stand der Volksliedtradition, die, wie er sagt, die Sprache immer genährt und die Literatur inspiriert hat. „Es gibt etwa 200.000 ukrainische Volkslieder, die mit zu den ausdrucksvollsten der Welt gehören; sie werden verloren und vergessen sein. Diese Tradition war einmal wie frisches Quellwasser, von dem das Reservoir unserer Literatur gespeist wurde. Jetzt trocknet die Quelle aus, und der Wasserspiegel fällt und fällt, bis am Ende nur noch ein leeres Becken übrigbleibt.“
Aber die Existenz der Taras-Schewtschenko-Gesellschaft stimmt ihn wieder optimistisch. Sogar vom Zentralkomitee der Ukraine hatte man hierfür Unterstützung bekommen. Mehrere Sitzungen wurden bereits in Ukrainisch abgehalten, und inzwischen hat es auch schon ukrainischsprachige Programme im Fernsehen gegeben. Der Zustand der Sprache ist in den Schulen jedoch weiterhin recht erbärmlich; die Schüler bleiben dem Unterricht gerade in diesem Fach oft zu 50 Prozent fern, weil sie es als irrelevant für ihr Fortkommen einschätzen.
Serbei Platschinda, einer der ersten, die vor zwei Jahren das Thema Sprache in der Presse angepackt hatten und dessen Texte über die Mißhandlung der Umwelt über 20 Jahre zurückreichen, wagte es, die heikle, aber zentrale Problematik der Beziehungen zu Moskau zu berühren - ein Thema, das die meisten vermieden hatten. Nachdem er mir alles über die Erschöpfung des Bodens, die Ozonschicht, industrielle Verschmutzung und Raubbau an den Wasserreserven erzählt und seine Vorschläge über Alternativen zur Atomenergie ausgebreitet hatte, wandte er sich unerwartet der Politik zu: „Wir haben unsere eigene Auffassung von Internationalismus“, erklärte er. “'international‘, das bedeutete gewöhnlich: russisch. Aber unserer Meinung nach muß das etwas Beidseitiges sein. Was soll das für ein Internationalismus sein, der dich davon abhält, deine eigene Sprache zu kennen? International kann nicht mononational heißen oder antinational. Inter. Internationale Beziehungen sollten zur Grundlage die Kenntnis von wenigstens zwei Sprachen und Kulturen haben, nicht nur der einen.“
Das schien vernünftig. Anerkannt werden, geachtet werden, man selbst sein. Als ich das auf über sieben Tonbänder verteilte Ineinander von Ideen und Gefühlen zu ordnen versuchte, fiel mir auf, daß die ukrainische Renaissance oder das, was ich davon gesehen hatte - sowohl um Selbstbilder als auch um Selbsterhaltung geht - um einen neuen, stärker zur Geltung gebrachten, kohärenteren Ausgangspunkt. Es ging darum, besser ausgebildet, organisiert, selbstsicherer und mit größerem Bewußtsein über soziale, politische und Umweltfragen auftreten zu können, und zwar mit einer genaueren Sprache. Eine Republik und ein Volk: besser vorbereitet auf den Widerstand gegen äußeren Druck und bereit für eine neue Art von Dialog mit dem Zentrum.
Der Winter war in Kiew mild gewesen in diesem Jahr, es hatte kaum gefroren. „Das ist der ukrainische Frühling“, meinte Yuri Schtscherbak versonnen, als wir uns trennten. „Vielleicht lauert schon um die Ecke eine kältere Zeit.“
Irene Maryniak lebt in London und ist Expertin für die Sowjetunion bei 'Index on Censorship'; ihr Bericht über die Schriftsteller in der Ukraine ist einer von zahlreichen Artikeln, die sie nach einer Reise in die westlichen Republiken der Sowjetunion im März 1989 über die dortige Kultur- und Umweltpolitik geschrieben hat.
1 Taras Hryhorowytsch Schewtschenko (1814-1861) war der größte Dichter und einer der wichtigsten neuzeitlichen Maler der Ukraine. Geboren als Sohn eines Leibeigenen (im Bezirk Kiew), ging er 1831 nach Warschau, konnte sich freikaufen und von 1838 bis 1841 die Petersburger Akademie der Künste (Malerei) besuchen. 1847 wurde er wegen Mitgliedschaft in der geheimen ukrainischen Kyrillos-Methodios-Brüderschaft und wegen radikal-politischer Gedichte zu lebenslangem Strafmilitärdienst verurteilt; 1857 von Alexander II. begnadigt. Von romantischer Dichtung und historisierender Verserzählung entwickelte sich sein Schreiben (ukrainisch und russisch) hin zu sozialrealistischer Lyrik und Prosa (oft autobiographisch). Seine historisch und politisch -sozialen Gedichte, so der Brockhaus, sind teils von volkstümlicher Überlieferung, teils von politisch-nationalen Traditionen des Kosakenadels bestimmt; sie waren von entscheidender Bedeutung für den politisch-sozialen Gehalt des modernen ukrainischen Selbstbewußtseins.
2 Wolodymyr Schtscherbytsky: Erster Sekretär der KP in der Ukraine.
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