Ibsens Mahnung

■ Über Henryk Ibsens „Volksfeind“

Der norwegische Dramatiker Henryk Ibsen schrieb 1882 das Theaterstück Der Volksfeind. Im Zentrum des Schauspiels steht der Badearzt Stockmann; er hat herausgefunden, daß die Quellen des Bades, das den Reichtum der Stadt durch Kurgäste garantiert, durch giftige Substanzen aus den Gerbereien am Abhang der Ortschaft verseucht sind. Sein Kampf um Veröffentlichung dieses Befunds und seine schließliche Einsicht, daß auch die Tyrannei der Mehrheit (die nämlich kein Interesse an dieser Information hat) die Freiheit des Geistes ersticken kann, wurde für Arthur Miller in seiner Bearbeitung von 1950 zur Metapher für die McCarthysche Hexenjagd in den USA.

Aus Anlaß einer Wiederaufführung seiner Adaption durch das Young-Vic-Theatre in London im letzten Jahr schrieb Arthur Miller für 'Index‘ diesen (hier gerkürzten) Text.

Es ist ziemlich fürchterlich, feststellen zu müssen, daß die Geschichte vom Volksfeind auf unsere heute naturvernichtenden Gesellschaften immer noch oder sogar mehr denn je zutrifft, womöglich mehr als auf den ungebundenen und rohen Kapitalismus um die Jahrhundertwende, wie ihn Ibsen kannte. Das Durchwühlen unberührter Täler, Wälder und Felder auf der Suche nach abbaubaren Erzen und das fraglose Wegerecht eines sich ständig ausbreitenden Eisenbahnnetzes ist ein Kinderspiel gegen unsere heutigen, gigantischen Raubzüge, radioaktiven Verseuchungen und Ölverschmutzungen, ganz zu schweigen von der Vergiftung unserer Nahrung mit krebserregenden Chemikalien.

Trotzdem muß daran erinnert werden, daß die Vergiftung der öffentlichen Wasserversorgung durch undurchsichtige und rücksichtslose Machenschaften für Ibsen nur der Anlaß für seinen Volksfeind war, nicht aber im engeren Sinne sein Thema. Sein wirkliches Thema ist die Vernichtung eines abweichenden Denkers durch die Mehrheit, und das Recht, sogar die Notwendigkeit solchen Denkens. Daß Ibsen diesen moralischen Kampf mit dem Thema der Erhaltung der Natur verband, ist vielleicht kein Zufall. Immerhin hätte er genug Beispiele für moralische Feigheit und egoistisches, antisoziales Verhalten auch in anderen Bereichen finden können: Handel und Wissenschaften, Ministerien und Künste was man will...

Es ist ziemlich lange her, daß ich mich mit Ibsens Biographie beschäftigt habe, aber ich glaube mich zu erinnern, daß man den Ursprung des Volksfeind in Zusammenhang gebracht hat mit einer Zeitungsnachricht über vergiftetes Wasser in einem ungarischen Kurort. Ich erinnere mich nicht, ob es dort einen Mann wie Dr.Stockmann gegeben hat, der vergeblich dafür gekämpft hat, die Öffentlichkeit über die Wahrheit nicht aufzuklären. Aber ob dies der äußere Stimulus für das Stück gewesen ist oder nicht, beantwortet noch nicht die Frage, warum Ibsen sich so begierig ausgerechnet hierauf gestürzt hat - und sein Stück in wenigen Wochen herunterschrieb.

Beim Nachdenken über diese Wahl fiel mir Henry David Thoreau1 wieder ein; auch er sah in der Zerstörung der Natur eine Metapher für den Verrat des Menschen an sich selbst. Und ich glaube, daß Thoreau in der intellektuellen Tradition eines Mißtrauens gegen den Fortschritt gestanden hat, die auf die römischen Dichter zurückgeht und in der uralten Auffassung der Stadt als notwendig dekadent und des unberührten Landes als edel fußt.

Wenn es um die Natur geht, sind selbst radikale Künstler oft sehr konservativ und mißtrauen jeder Veränderung; vielleicht nimmt die Natur auch dadurch den Charakter eines reinen moralischen Wertes an, da Religion sich in Skeptizismus aufgelöst hat. Der Himmel mag leer sein dennoch scheint der Blick auf einen unberührten Wald oder einen ursprünglichen See ein Blick, wenn nicht auf Gott oder Götter, so doch wenigstens in ihre verlassene Wohnung. Ibsen brauchte ein absolut Gutes, um das Böse dagegen arbeiten zu lassen, etwas Helles von unzweifelhafter Würde für die dunkle Lüge, die es bedroht. Vielleicht war es das, was ihm die Natur bieten konnte. Und das ist heute natürlich auch effektvoller geworden, da man sauberes Wasser nur in Supermärkten bekommt.

Arthur Miller

1 Henry David Thoreau (1817-1862), Theoretiker des zivilen Ungehorsams und Pazifismus, beeinflußte M.L.King und Gandhi.