HEIMATKUNDE, HEIMATLIEBE

■ Weiß und Rot sind die bestimmenden Farben Bad Segebergs

„Dem Mann geben wir einen Schnaps und Glück auf die Reise„(Johnson)

Von Berlin kommt der Rezensent und sucht Bad Segeberg „im Herzen des Städtedreiecks Hamburg-Kiel-Lübeck“. Seltsame Dörfer streift er in „hügeliger Wald-, Knick- und Seenlandschaft“. „Berlin“, so heißt eines zum Hohn, als wär er nie aufgebrochen und „Quaal“ stöhnt ein andres, schaurig berühmt durch eine Hochzeit im Mittelalter, bei der 200 Gäste in einer Feuerbrunst umkamen und nur das Brautpaar überlebte.

Von weit her grüßen, rot-weiß in den Himmel ragend, die Lagerhallen von „Möbel-Kraft“. Quartier und Heimat findet der Reisende in der Innenstadt, im „Hotel Stadt Hamburg“. Manchmal, zu vorgerückter Stunde, taucht „Schlangen-Eddy“, der Wirt, in der angeschlossenen Bar auf und erzählt. Wie es damals war, in der Vico-Torriani-Show, als er seine Schlangennummer vorgeführt hatte. - „Ach Eddy, den kenn'n wir schon, erzähl uns einen andren.“

Segebergs Straßen heißen: Weichseldamm, Ostpreußenring, Königsberger Straße, Schlesienstraße... 6.000 „vertriebene Ausländer“ (Bürgermeister a.D. Walter Kasch) verdoppelten die Einwohnerzahl nach dem Krieg und „integrierten sich überraschend gut in den bodenständigen Volkskörper“ (Landarzt Benöhr). Heute zählt die Stadt 14.000 Geschichte

In der Stadtbücherei findet man 33 „Heimatkundliche Jahrbücher für den Kreis Segeberg“: „Heimatkunde, Heimatpflege und Heimatliebe ergehen sich nicht in einer rückschrittlichen Strohdachromantik, sondern sie wollen das Fundament in unserer modernen Massengesellschaft schaffen helfen.“ Vor allem Lehrer schreiben über den eigenartigen Segeberger Höhlenkäfer und den „Partisanenkrieg vor 300 Jahren im Wankendorfer Moor„; der Arbeitsdienst der Nazis wird gelobt, „zivilisatorisch angekränkelte Mitmenschen“, mahnt Dr.Benöhr und auch die „Totenkopfschwärmer im Kreise Segeberg“ finden ihre Erwähnung, wobei keinesfalls SS -Truppen, sondern Schmetterlinge gemeint sind.

„Wenn de nich lev bist, bring'n wär dich zum Sibarger Tschud“, hieß es um die Jahrhundertwende. Den Segeberger Juden allerdings gibt es nicht nehr. Der einzig Überlebende in einer Stadt, die „antisemitisch bis zum Geht-nicht-mehr“ war, die „nur auf Hitler gewartet hat“, so Friedrich Gleiss (65), der 1987 mit seinem Artikel über die Geschichte der Segeberger Juden 42 Jahre des Schweigens durchbrach, wurde von den Briten zum ersten Nachkriegsbürgermeister gemacht und muß seither als Alibijude herhalten.

Die jüdische Gemeinde in Segeberg war eine der ältesten und aktivsten in Schleswig-Holstein. Von 1792 datiert der jüdische Friedhof. Versteckt hinter einer Mauer am Kurpark wird er nur öffentlich, wenn Grabsteine geschändet werden.

Es gab eine jüdische Sprachbehindertenschule, ein Mädchenheim und andere Einrichtungen; Juden machten einen Großteil der Segeberger Kurgäste aus, und während Adolph Levy noch im Aufsichtsrat der Solbad Segeberg e.V. saß, wurden im Kurhaus erste Tafeln gestellt: „Juden sind hier unerwünscht.“ In den dreißiger Jahren waren die meisten geflohen, einige hatten sich umgebracht, weil ihnen das Leben in Segeberg unerträglich gemacht worden war.

Gleiss gründete einen Verein zur Pflege des Andenkens der jüdischen Gemeinde. Das ist nicht nur auf Wohlwollen gestoßen: „Du woult da 'n Tafel anbring'n laten, bi de Synagog (die 1962 abgerissen wurde), wat schall di Quatsch, lat den Schiet.

Gepflegt wird ansonsten die Geschichtslosigkeit: Am liebsten berichtet die Lokalzeitung über ominöse Sagengestalten; Bürgervorsteher, verkleidet als Ritter Heinrich, schwarze Margarethe und Vicelin (der Mönch, auf dessen Initiative die Stadt 1134 gegründet wurde), spazieren dann auch, identitätsstiftend, alljährlich und leibhaftig während der „Segeberger Woche“ durch die jauchzende Menge; alteingesessene Kaufleute stehen währenddessen vor ihren Geschäften und bitten die 12,8 Prozent Arbeitslosen um Spenden für den Rotary-Club.

Höhepunkt im Stadtleben ist das Kindervogelschießen; Gründerzeit, und die fünfziger Jahre reichen sich die Hand zur Segeberger Posthistoire. Früh am Morgen lockt der Spielmannszug mit dem preußischen Präsentiermarsch. Blau -weiß leuchten die Uniformen, die Mädchen seit eh und je in kniekurzen Röcken - pervers -; ein grotesker Zug, lärmt durch die Stadt. An der Spitze zieht ein Trecker - nur notdürftig durch Pappmachepferde getarnt - den Königswagen; angestrengt winkt und grüßt das Gewinnerpaar vom letzten Jahr. Peinlich ordnen Honoratioren das Geschehen. Auf der Vogelwiese dann dürfen Mädchen „Vogelwerfen“ und Jugens „Armbrustschießen“. Alles ist sehr wichtig, insbesondere für die zuschauenden Damen und Herren des Kindervogelschießervereins. Orte

Steinern starrt die 1160 erbaute Marienkirche über die Altstadt zum Kalkberg hin; unbewegt überschaut sie auf der anderen Seite den „Großen Segeberger See“. Der See liegt im Schatten eines modernen Kurzentrums, das betont die Landschaft dekonstruiert und dem man nur in der angetrunkenen Abendstille, sinnend am Rande des Kirchhofs, rekonstruierend entkommen kann.

Jeder fühlt sich wohl und „der lachende Nachbar“ (Rilke) weiß, was passiert: Die geht mit der, der geht mit dem; und

-Kinder werden gemacht; die „Tyrannei der Zehnjährigen“ ('Titanic‘) triumphiert. Vor kurzem wurde Segeberg vom Bahnnetz abgekoppelt, dafür ans Kabel angeschlossen. Das Kulturprogramm ist eher spärlich, und die Jugend weicht in die Groß- oder Gaststädte aus.

50 Leute arbeiten im „Lindenhof“. Besitzer dieses Unterhaltungssupermarktes ist „Karl Hermann“, norddeutscher Vergnügungsmulti, dessen Nachnamen nicht einmal seine Mitarbeiter kennen (so sagen sie, dabei heißt der so).

'n Bier!“ - „Na logisch!“ „Holli“, der Barkeeper berichtet von Plänen, die „Stones“ dies Jahr im Kalkbergstadion auftreten zu lassen. Nicht ganz unwahrscheinlich - Bowie, Dylan, Miles Davis und die Talking Heads; hier hat so ziemlich alles gespielt, was Rang und Namen hat.

Während im Lindenhof das Woodstockplakat neben dem Hungerstreikbrief von Rolf Heißler hängt (keiner weiß, wie der da hin kam), hängen im „Klackermatsch“ alte Freunde, die seit zehn Jahren erzählen, sie wollten gerade nach „Frisco“, die „Deads“ angucken. Seit 1968 steht das „Klacker“, auch „Veilcheninstitut für Kommunikation“, für Szene. Jeder, der wach und aufmerksam durch die siebziger Jahre gegangen ist, hat hier seine Lehrzeit absolviert. Nicht Sentimentalität, sondern Geschichte liegt in der Luft. Einige sitzen nicht mehr da-an-der-Theke, aber jeder, der es irgendwie schafft, kommt zumindest Weihnachten vorbei, um sich bei Peter „Pete“ Bauer noch ein „Bud“ zu bestellen - „Logisch!“

Und doch ist die ewige Frage in Segeberg: „Hast du'n Audo; fährst du noch wohin?“

Von Wirtschaft zu Wirtschaft: 3.000 Segeberger arbeiten bei Möbel-Kraft, 300 Laster liefern ins gesamte Bundesgebiet. Mehrere tausend Kunden kommen täglich. Das gibt Verkehrsprobleme - die Gebrüder Kraft werden sie mit einem Tunnelbau lösen. Die Lagerhallen sind rot-weiß.

Rot-weiß lockt auch der Kochlöffelgrill. Für sechs Mark die Stunde - „eine von vielen lustigen Kochlöffelideen“ verdingt sich hier der Ferienjobber. Karl May

Ein Begriff in der ganzen Welt sind seit 36 Jahren die Karl -May-Festspiele im Kalkbergstadion, von Goebbels 1937 als Thingplatz und „Feierstätte der Nordmark“ eingeweiht. „Freude des Herzens! Jubel der Seele. Diese Gestalten leibhaftig auf der Bühne zu sehen, einen Hauch ihres Zaubers und ihrer Phantasiegewalt zu erleben, das ist eine solche Erfüllung und ein solches Glück, daß zunächst jede Kritik schweigt.“ (Carl Zuckmayer)

Autor der Stücke ist seit neuestem Pierre Brice (60), der als ewiger Winnetou zwei Monate lang mehr als 200.000 Zuschauer begeistert.

Weiß und Rot sind die bestimmenden Farben Segebergs: Weiß und Rot leben in Frieden nach dem Gesetz der Bibel, und so werden sie auch weiter leben. Im „Klacker“ fragte mich jemand, ob ich ein Auto hätte, ob ich noch wegfahren wolle. Ich habe nur „Ja“ gesagt.

Detlef Kuhlbrodt